Kolumne:Macht Rollator-Demos!

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Zum Tag der Pflege protestiert das Aktionsbündnis "Gesundheit ohne Profite" vor dem Bundesministerium für Gesundheit in Berlin. (Foto: snapshot-photography/F.Boillot via www.imago-images.de/imago images/snapshot)

Die Entmündigung Pflegebedürftiger wurde vor dreißig Jahren abgeschafft und durch "Betreuung" ersetzt. Diese funktioniert nicht. Von der Zukunft des Alters.

Kolumne von Heribert Prantl

Vor dreißig Jahren wurde die Entmündigung von Pflegebedürftigen abgeschafft. Das war richtig und wichtig, das war revolutionär. Seitdem gibt es für volljährige Menschen keinen Vormund mehr, sondern Betreuerinnen und Betreuer; sie sollen den betreuten Menschen in den gesundheitlichen und rechtlichen Bereichen unterstützen, in denen es nötig ist. Von einer Jahrhundertreform war die Rede. Die rechtliche Verachtung der Hilfebedürftigen ging damals zu Ende. Aber zu einer wirklichen Achtung der Hilfebedürftigten ist es nicht gekommen; eine Bemündigung ist in den dreißig Jahren seitdem nicht gelungen.

Das Betreuungsgesetz von 1991 wollte nicht nur die radikale Abkehr von der alten Entmündigung, es wollte den Hilfebedürftigen auch Hilfe geben, es wollte für Zuwendung und Respekt sorgen, es wollte die Selbstbestimmung der Menschen mit schweren Handicaps stärken. Das wäre, nach dem Ende der Entmündigung, sozusagen die Bemündigung gewesen - Anerkennung, Respekt, Förderung, Selbstbestimmung. Aber das ist nicht gelungen. Warum nicht? Es zeigte sich, dass man Menschen nicht streicheln kann mit Paragraphen.

Es fehlt an Geld, Personal, Fürsorge und vor allem: am politischen Interesse

Bald vier Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. 1,3 Millionen Menschen stehen unter rechtlicher Betreuung. Aber: Es fehlte und fehlt hinten und vorne an Geld, an Personal, an guter und fürsorglicher Pflege; es fehlt an ausreichender staatlicher Hilfe für die Betreuungsvereine, in denen die ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuer unterstützt werden sollen; es fehlt eine ordentliche Vergütung für die Berufsbetreuerinnen und Betreuer; und es fehlt am politischen Interesse für das Thema. Dieses Interesse gibt es nach wie vor nicht. Der Applaus für die Pflegekräfte, den es am Beginn der Corona-Krise gab, ist verklungen und vergessen. Bei einem Trostpflastergeld, einer Einmalzahlung in Höhe von 1500 Euro für Pflegekräfte ist es geblieben - und bei hohem Arbeitsdruck und viel Bürokratie.

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Der gesamte Bereich der Pflege ist bisher in den Sondierungsgesprächen der künftigen Koalitionäre extrem unterbelichtet. Der Sozialverband VdK kritisiert, dass häusliche Pflege und eine umfassende Pflegereform im Sondierungspapier der künftigen Koalitionäre nicht einmal erwähnt werden. Verena Bentele, die Präsidentin des VdK, stellt zu Recht fest: "Die Ampel ist in Pflege- und Gesundheitsfragen ideenlos." Pflege und Betreuung sind angesichts einer alternden Bevölkerung die neue soziale Frage. Verweigern sich die künftigen Koalitionäre einer Antwort?

Soll das Betreuungsrecht wieder dort ankommen, wo einst das Vormundschafts- und Entmündigungsrecht aufhörte? Damals war es so: Ein Anwalt verwaltete von seinem Schreibtisch aus hundert und mehr "Mündel". Das Mündel war ein Fall, das Recht der Entmündigung war ein archaisches Recht. Menschen wurden krank, alt, schwach, hilfebedürftig - und daher ausgeschlossen. "Altersschwach" wurde über sie mitleidig gemurmelt, oder sie wurden weniger mitleidig als "gaga" bezeichnet. Das Recht machte dabei mit: Sie durften nicht mehr wählen, sie durften nicht mehr heiraten; das Testament, das sie schrieben, war unbesehen ungültig. Nicht einmal über Taschengeld durften sie mehr verfügen, denn das Entmündigungsrecht machte selbst den Kauf von Kaffee und Kuchen unwirksam.

Die Entmündigten wurden aus dem Verkehr gezogen, in Heime verfrachtet, ihre Wohnungen aufgelöst. Und das Unglück solcher Menschen wurde in bestimmten Fällen, das war der Gipfel der Verachtung, auch noch als amtliche Bekanntmachung in den Zeitungen inseriert - als Warnung für den Rechtsverkehr: "NN, geb. am xx. xx. xxxx, wegen Trunksucht auf seine Kosten entmündigt. Das Amtsgericht/Vormundschaftsgericht".

So etwas ist heute schier unvorstellbar. Aber der Pflegenotstand ist weiterhin nicht nur vorstellbar, er ist existent - es gab ihn vor Corona, es wird ihn nach Corona geben. Und politische Anstrengungen, ihm zu beheben, gibt es nicht. Deutschland war bislang nicht in der Lage, ein anständiges Pflegekonzept zu entwickeln. Daran wird sich nichts ändern, solange Pflegeheime wie Profitcenter betrieben werden, die Gewinne abwerfen müssen. Daran wird sich nichts ändern, wenn häusliche Pflege nicht endlich die Förderung erhält, die sie braucht. Es ist schade, dass das Bundesverfassungsgericht 2012 eine Verfassungsbeschwerde gegen den Pflegenotstand nicht angenommen hat. Es wäre dies Nothilfe gewesen. Was tun? Die alten Menschen sollten für eine bessere Pflege auf die Straße gehen: Rollator-Demo! Sundays for future! Warum tun sie es nicht? Die einen können es nicht mehr. Die anderen wollen nicht daran denken, dass sie am nächsten Tag selbst betroffen sein könnten.

Auch das Helfen hat seine Würde - sie wird untergraben, wenn man die Helfenden im Stich lässt

Etwa 1,5 Millionen Demenzkranke leben heute in Deutschland; im Jahr 2050 werden es wohl drei Millionen sein. 60 Prozent der Betreuerinnen und Betreuer sind derzeit Familienangehörige; rund vierzig Prozent machen die Betreuung als Hauptberuf. Beides wird nicht ausreichend gefördert. Die Reform des Betreuungsgesetzes, die zum 1. Januar 2023 in Kraft treten soll, sieht ein Registrierungsverfahren für Berufsbetreuer vor, das einen Fachkundenachweis verlangt. Ist das alles? Eine Kultur, die die Lebenszeit so sehr verlängert hat, hat noch keine Antwort auf die Probleme gefunden, die damit einhergehen.

Auch das Helfen hat seine Würde - und diese Würde wird untergraben, wenn man den Menschen, die einmal mit viel Idealismus in den Pflege- oder Betreuungsberuf gegangen sind, das nimmt, was ihr Ethos ausmacht: sich dem ganzen Menschen zuzuwenden. Stattdessen müssen die Pflegerinnen und Pfleger Module abarbeiten und dieses Abarbeiten dokumentieren. Und die Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer müssen viel zu viele Fälle annehmen, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. Das ist nicht die "Betreuung statt Entmündigung", die vor dreißig Jahren versprochen wurde.

Es sollte für Gesellschaft, Politik und Koalitionsverhandlungen ein gerontologischer Imperativ gelten: Pflege und betreue die alten und hilfebedürftigen Menschen so, wie Du selbst einmal gepflegt und betreut werden willst. Verrückt sind nicht hilfebedürftige und demente Menschen. Verrückt ist eine Politik, die diesen Imperativ nicht beherzigt.

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