Tarifverhandlungen:Die Reifeprüfung

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Als es noch Lohntüten gab: Kassenboten in einer Berliner Bank (Datum unbekannt). (Foto: Scherl/SZ Photo)

In diesem Herbst der Zumutungen müssen Gewerkschaften und Arbeitgeber beweisen, wie belastbar das sozialpartnerschaftliche Modell in Krisenzeiten ist.

Kommentar von Benedikt Peters

"Wutwinter", "heißer Herbst" - in diesen Wochen wird gerne gemutmaßt, ob wegen der Energiekrise und den Preissteigerungen in den kommenden Monaten soziale Unruhen drohen. Seriös beurteilen kann das niemand, die Bundesregierung bemüht sich um Entlastungen für die gebeutelten Bürger, während andere, denen es politisch nutzt, ihr Bestes tun, um Unfrieden zu stiften. Was sich besser vorhersagen lässt: Für die Gewerkschaften dürfte der Herbst tatsächlich heiß werden.

Die Arbeitnehmervertreter stehen unter enormem Druck. Seit Jahren haben sie mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Das rührt an ihre Existenz, denn ohne Macht auf der Straße lassen sich kaum bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Immer weniger Menschen in Deutschland sind überhaupt noch durch einen Tarifvertrag geschützt. Aber ausgerechnet in dieser Phase relativer Schwäche sind die Gewerkschaften so wichtig wie lange nicht. Durch die hohe Inflation haben die Menschen immer weniger Geld, das hat eine Studie der Böckler-Stiftung nun wieder belegt. Die Verteuerung des Lebens vernichtet die eher niedrigen Lohnerhöhungen, welche die Arbeitnehmervertretungen in den vergangenen Jahren herausgehandelt haben.

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Die Politik der Gewerkschaften kann die Folgen von Krieg und Krise nicht allein auffangen. Aber die Menschen, die Monat für Monat ihre Beiträge zahlen, erwarten von ihnen zumindest einen spürbaren Einsatz. Sie brauchen ihn auch. Die Bundesregierung kann nicht alle Erschwernisse ausgleichen. Im Schnitt entlastet sie die Menschen um etwa 60 Prozent, haben Ökonomen errechnet. Gerade für Menschen mit wenig Geld heißt das: Sie müssen sich sorgen.

Die Lösung: gegenseitiges Verständnis

Die Arbeitnehmervertreter wissen das, und entsprechend hoch fallen nun ihre Lohnforderungen für den Herbst aus. Die Metaller, die von September an die mit etwa vier Millionen Arbeitnehmern größte Tarifrunde Deutschlands abhalten, verlangen ein Plus von acht Prozent. Verdi folgt im Winter mit mehr als zwei Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst - dort heißt es, mindestens ein Inflationsausgleich müsse her. Die Verhandlungen mit den Arbeitgebern macht das enorm kompliziert: Auch sie stehen unter Druck, auch sie leiden unter den Preissteigerungen, der Energiekrise, den unsicheren Lieferketten, den strapazierten Haushalten. Wochenlange Streiks will niemand.

Doch es gibt einen Ausweg: Er liegt schlicht darin, dass beide Seiten Verständnis füreinander aufbringen. Dass sie umsichtig verhandeln und die Bundesregierung dies mit weiteren Entlastungen, wie sie derzeit vorbereitet werden, flankiert. Die Arbeitgeber sollten den Beschäftigten Lohnerhöhungen gewähren, welche die Inflation mindestens ausgleichen. Im Gegenzug sollten die Gewerkschaften Ausnahmen zustimmen, zum Beispiel für den Fall, dass die Gasversorgung in bestimmten Industriezweigen zusammenzubrechen droht, und sie sollten zu etwas längeren Laufzeiten der Tarifverträge bereit sein. Das gibt den Firmen Planungssicherheit. Verdi und die Lufthansa haben vorgemacht, wie es geht: Die Beschäftigten des Bodenpersonals, gerade die Geringverdiener, bekommen seit Juli deutlich mehr Geld. Dafür lassen sie den Konzern in den nächsten eineinhalb Jahren in Ruhe.

Das sozialpartnerschaftliche Modell, in dem sich Gewerkschaften und Arbeitgeber um Löhne und Arbeitsbedingungen kümmern und der Staat sich eher heraushält, gehört zum Wesenskern der deutschen Demokratie. Nun muss es beweisen, dass es auch in schweren Zeiten wie diesen funktioniert.

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