Europäische Union:Es geht um die Zukunft Europas

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Videokonferenz der EU-Staats- und Regierungschefs. (Foto: Olivier Matthys/picture alliance/dpa/AP Pool)

Polen und Ungarn missachten die Werte der EU schwerwiegend und anhaltend. Verfahren sollten eingeleitet und bis zum Entzug des Stimmrechts zu Ende geführt werden.

Gastbeitrag von Christoph Vedder

Der EU-Haushaltskompromiss der vergangenen Woche war - ganz Angela Merkel - hohe diplomatische Kunst: Unionshaushalt und Corona-Aufbaufonds sind gerettet, das Thema Rechtsstaatlichkeit ist aus den Schlagzeilen. Allerdings wendet sich der "Rechtsstaatsmechanismus", auf den man sich geeinigt hat, nur gegen Betrug und Korruption bei der Verwendung von Haushaltsmitteln der Union. Zudem greift er erst mit großer zeitlicher Verzögerung. Die Veto-Drohkulisse, die Ungarn und Polen aufgebaut hatten, lädt zur Nachahmung ein. Die Union ist über ihre Werte weiter tief gespalten.

Das war die machtpolitische Zwickmühle: Der jährliche EU-Haushalt und der Rechtsstaatsmechanismus in Gestalt einer Verordnung werden vom Europäischen Parlament (EP) und vom Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen. Der mehrjährige Finanzrahmen für 2021 bis 2027 in Höhe von 1,1 Billionen Euro und die durch den Corona-Aufbaufonds "Next Generation EU" bedingte Ausdehnung des Haushaltsvolumens um 750 Milliarden Euro bedürfen dagegen neben der Zustimmung des EP eines einstimmigen Ratsbeschlusses. Das Paket konnte also im Rat nur einstimmig - daher das Veto-Recht - , aber eben auch nur mit Zustimmung des EP beschlossen werden.

Der jetzt verabschiedete Rechtsstaatsmechanismus greift nur, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit die ordnungsgemäße Durchführung des Haushalts der Union beeinträchtigen oder zu beeinträchtigen drohen. Nur unabhängige nationale Gerichte können wirksam über die ordnungsgemäße Verwendung von EU-Mitteln durch Regierungen, Behörden, aber auch andere Gerichte wachen. Auf diesem Umweg soll die Unabhängigkeit der Justiz in den Mitgliedstaaten geschützt und gegebenenfalls durch Nichtauszahlung von EU-Mitteln sanktioniert werden.

Die Unionsverträge kennen nur ein Sanktionsmittel

Die Mitgliedstaaten haben sich durch Art. 2 des Unionsvertrags verfassungsrechtlich auf Werte der Union verpflichtet: Neben Rechtsstaatlichkeit sind das vor allem Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Menschenrechte, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz. Durch den Vertrag von Lissabon hat sich die EU als immer engere Union der Völker Europas als ein unumkehrbarer Prozess konstituiert. Daher hat man für den Notfall die jetzt durch den Brexit genutzte Austrittsmöglichkeit geschaffen, allerdings ohne einen Ausschluss aus der Union in die Verträge aufzunehmen, wie ihn die UN-Charta oder die Satzung des Europarats selbstverständlich vorsehen.

Die Unionsverträge kennen nur ein Sanktionsmittel. Art. 7 des Vertrags sieht bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte der Union ein Verfahren vor, an dessen Ende das Stimmrecht eines Mitgliedstaats suspendiert werden kann. Dazu bedarf es eines einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rats, bei dem der Staat, gegen den sich das Verfahren richtet, nicht stimmberechtigt ist.

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Polen und Ungarn missachten die Werte der Union schwerwiegend und anhaltend. Es geht um eine Abwendung von den Werten der Union hin zu einer autoritären Demokratie. Eine unabhängige Justiz, die der Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit ist, die Freiheit der Medien, die Transparenz garantieren, Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und mehr werden systematisch unterminiert. Entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) werden offen missachtet.

Jenseits der Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und Unionshaushalt geht es um die Zukunft der Union

Daher sollten Art. 7-Verfahren eingeleitet - dazu braucht es keine Einstimmigkeit - und bis zum Entzug des Stimmrechts zu Ende geführt werden. Art. 7 lässt sich an seinem Sinn und Zweck orientiert so auslegen, dass ein Mitgliedstaat, gegen den ein Art. 7-Verfahren geführt wird, auch in parallelen Art. 7-Verfahren kein Stimmrecht hat. Damit wird der Zweck des Stimmrechtsauschlusses betroffener Staaten wiederhergestellt. So können Ungarn und Polen sich nicht gegenseitig absichern.

Ein solches Vorgehen hätte vor dem EuGH Bestand. Es wäre auch wirkungsvoll: Staaten, denen das Stimmrecht entzogen wurde, können einstimmig zu fassende Beschlüsse nicht länger blockieren. Politisch würden Art. 7-Verfahren allein schon durch ihre Existenz wirken.

In der EU gibt es keine inneren Angelegenheiten, die man gegen Einmischungen von außen verteidigen könnte. Das ist die Essenz dessen, was die Union als supranationale Organisation und Wertegemeinschaft ausmacht. Die durch die Verträge garantierte nationale Identität der Mitgliedstaaten schützt die nationale Sicherheit und ähnliche staatliche Grundanliegen, kann aber keine Abkehr von den Werten der Union rechtfertigen. Jenseits der Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und Unionshaushalt geht es um die Zukunft der Union.

Auf einer zweiten - ebenso wichtigen - Ebene geht es um die Rechte der Unionsbürger

Auf einer zweiten - ebenso wichtigen - Ebene geht es um die Rechte der Unionsbürger. Art. 2 nennt die Wahrung der Menschenrechte. Dazu gehören die Europäische Menschenrechtskonvention, die Teil des Unionsrechts ist, und auch die universellen Menschenrechte.

Wer das Ende der liberalen Demokratie herbeiführen will, will eine andere Gesellschaft. Es geht um Autoritarismus gegen Pluralismus, um Demokratie gegen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Was wir offenbar nicht für denkbar gehalten haben: Gesellschaften können sich auf demokratischem Weg vom westlichen Werteverständnis der Union abwenden.

Mitgliedstaaten, die die Werte und die politischen Grundlagen der Union untergraben und Entscheidungen des EuGH missachten, haben keinen Platz mehr in der EU. Auch eine demokratische Legitimation immunisiert nicht. Die Verträge nehmen die Mitgliedstaaten in die Pflicht, zur Wahrung der Werte der Union vom Art. 7-Verfahren Gebrauch zu machen.

Wer die Souveränität zurückhaben will, was ein politisch legitimer Wunsch ist, muss die EU verlassen - das wird mit dem Brexit exemplarisch vorgeführt - , oder darf gar nicht erst beitreten oder aufgenommen werden. Jeder Austritt ist ein Verlust. Wenn jedoch durch Veto-Drohungen das Funktionieren der Union lahmgelegt wird, um die verfassungsrechtlichen Werte missachten zu können, geht es um die Zukunftsfähigkeit der Union.

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