Wenn man derzeit ins bayerische Oberland, ins Sauerland oder in die österreichischen Alpen schaut, sieht man rodelnde Kinder, Ski fahrende Familien, wandernde Einzelgänger oder langlaufende Paare. An manchen Stellen mag es extremen Andrang geben, der angesichts der Pandemie besser in geordnete Bahnen zu lenken wäre. Doch es gilt wie so oft: Der überwiegende Teil der Menschen hält sich an die Abstandsregelungen, an die Ausgangssperren, die Betretungsverbote, die Maskenpflicht.
Die Menschen lachen im Schnee, sie haben Spaß, sie empfinden inmitten der ernsthaftesten Krise des 21. Jahrhunderts so etwas wie Lebensfreude. Und sie sind die Vorboten einer Debatte, die nun Außenminister Heiko Maas mit seiner Forderung befeuerte, Geimpften Lockerungen zu gewähren - und die im zweiten Jahr der Pandemie darüber entscheiden wird, ob eine andauernde gesellschaftliche Krise vermieden werden kann.
"Dürfen die das?", ist die Frage, die man sich stellt, bewusst oder unterbewusst, wenn man Menschen sieht, die - oh Schreck - Spaß haben. In Deutschland bestimmen derzeit verständlicherweise die Todeszahlen, die Infektionszahlen und seit Kurzem die Zahl der Geimpften die Nachrichten. Die gesellschaftlichen Ressourcen Geduld und Solidarität waren noch nie so wichtig wie jetzt - aber sie sind ein rares Gut geworden. Immer stärker breitet sich Corona-Müdigkeit aus. Die ist jedoch schwerer messbar und wird daher gerne einmal als sehnsüchtiges Gefühl abgetan.
Ja, die Menschen dürfen Lebensfreude suchen
Also: Dürfen die das? Dürfen Menschen Lebensfreude suchen, Ausgleich finden, den Todeszahlen gewissermaßen auf dem Schlitten entfliehen, immer versehen mit dem Zusatz: solange sie sich an das Pandemie-Regelwerk halten? So wie es einen gesellschaftlichen Konsens in der Beantwortung der Frage geben muss, ob es eine strikte Pandemiebekämpfung braucht, so darf es auch auf diese Fragen nur eine Antwort geben: ja.
Das Jahr 2021 wird bestimmt werden von der Frage, ob die Gesellschaft sich zu einem "Ja, dürfen sie, sollen sie, es ist gut so" durchringen kann, wenn die Frage aufkommt: Dürfen die einen, was die anderen (noch) nicht dürfen? Solidarität darf nicht nur dann eingefordert werden, wenn es um die Beschränkung von Freiheiten geht, um Leben und Gesundheit der anderen zu schützen. Solidarität muss es auch dann geben, wenn Freiheiten zurückgewonnen werden.
Wenn Menschen, die durch Impfung, durch Antikörperbildung, durch stark verringertes Infektionsrisiko oder vielleicht sogar allein durch das Tragen einer Maske beim Rodeln ein Stück der Freiheit zurückerobern, die ihnen als Bürger zusteht, muss das als gesellschaftlicher Erfolg angesehen werden. Was Maas fordert, sind keine "Privilegien"; sie sind verfassungsrechtliche Normalität in einem freiheitlichen Staat.
Solidarisch sein hieß 2020 und wird auch 2021 noch lange heißen: zu Hause bleiben, Rücksicht nehmen, verzichten. Sobald jedoch ein schrittweises Ende des Lockdowns sich abzeichnet, wenn etwa endlich großflächiger geimpft werden kann, braucht es einen Zusatz. Solidarisch sein heißt dann auch, sich über die Freiheiten des Mitmenschen zu freuen. Spalterischer Neid darf in einem Land, das nicht nur eine Gesundheitskrise beenden, sondern auch eine Gesellschaftskrise vermeiden will, keine Rolle spielen.