US-Sender Viceland:Fernsehen für Freaks

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Noisey führt nach Bompton, Los Angeles - und begleitet die Protagonisten mehrere Tage lang. (Foto: AP)

Mit dem TV-Sender Viceland baut Vice-Gründer Shane Smith sein Imperium aus. Hier ist alles zwei Stufen roher und schriller. Kann man das ansehen? Ein Experiment.

Von Hakan Tanriverdi, New York

"Wir versuchen, nicht beschissen zu sein": Mit diesen Worten hatte Vice-Gründer Shane Smith seine Mission erklärt, sein Medienimperium nun auch auf das Fernsehen auszuweiten - und Millenials wieder vor den Bildschirm zu holen.

Viceland ist das neueste Produkt von Vice, einem jahrzehntealten Bastard aus Journalismus und Freakshow im Internet. Abstruserweise gibt es Viceland mit Kabelzugang zu sehen. Was seltsam konservativ wirkt - wie ein Punk, der sich mit Mitte 40 seine Tattoos weglasern lässt. Aber nur die, die nicht vom Hemd überdeckt werden.

Noch vor fünf Jahren wäre klar gewesen, dass eine Überschrift à la "Triff das Mädchen, das Hustensaft *buttchugged*", also anal aufnimmt, fast ausschließlich auf Vice zu finden sein würde. Außer auf Pornoseiten natürlich.

Doch heute spricht Buzzfeed 22 Minuten mit dieser Frau im herrlich blöden Podcast "Internet Explorer" - und die New York Times schreibt über einen Snapchatter, dessen Talent größtenteils darin besteht, "Damn, Daniel" zu schreien und damit ein Millionenpublikum zu erreichen. Journalismus, wie ihn Vice macht, ist mittlerweile Mainstream.

Und auch Vice weiß, dass es nicht mehr ausreicht, Botschaften ausschließlich in Ausrufezeichen durch die Welt zu plärren - erstens ist die Konkurrenz zu groß und zweitens Vice ein paar Milliarden Dollar zu schwer. Also soll es künftig neben Vice News und der Zusammenarbeit mit HBO auch Viceland geben - jeden Tag ein paar Stunden im Kabelfernsehen.

Vice-Reporter und eine Kamera, das war jahrelang ein Pitbull an ganz kurzer Leine. Mit Dennis Rodman in Nordkorea, zu Gast in Großbritannien bei Bare-Knuckle-Fights, also nackte Faust und nackter Knochen. Oder aber auf Pressereise beim Islamischen Staat.

Expansionspläne
:Vice versa

Der hippen US-Firma gelingt, womit klassische Medienhäuser ringen: junge Menschen zu erreichen. Der neueste Coup von Vice-Gründer Shane Smith ist ausgerechnet ein altmodischer Fernsehsender.

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Viceland ist nichts davon. Oder sagen wir: wenig.

Ich fange mit Fuck that's delicious an, einer Kochsendung mit dem Rapper Action Bronson. Allein schon deswegen, weil ich auf Empfehlung des Typen fast zwei Stunden durch New York gelaufen bin, um mir bei Eddie's Sweet Shop ein Banana Split zu kaufen und nichts davon bereue.

Bronson ist gelernter Koch, der stundenlang über Essen reden kann und will. Auf seiner Albumtour setzt er Stops an strategisch günstig gelegenen Restaurants. Bronson zwingt den Beat-Produzenten Alchemist Dill zu probieren, obwohl dieser Dill hasst. Das klingt furchtbar banal, ist aber auch furchtbar toll, da Bronson sich aufrichtig freut - auch Tage später noch im Interview mit GQ. Und wenn der Guardian schreibt, dass die Sendung ein "totales Fiasko" sei, frage ich mich, wie der Autor Bronson mit dermaßen guter Laune über Essen reden sehen kann und nicht aus Solidarität eine Pizza bestellen will.

Oft wird bei Vice der Journalist zum Protagonisten. In Weediquette erzählt Krishna Andavolu Geschichten über Graskonsum. Andavolu ruft zu Beginn seine Mutter an und sagt ihr, dass er eine neue Show hat und dass es um Gras geht: "Versprich mir, dass du nicht vor der Kamera rauchen wirst", bittet die Mutter. Natürlich wird er das, er hat auch vor dem Präsidenten Uruguays geraucht.

Andavolu erzählt die Geschichte von Kleinkindern, die an Krebs erkrankt sind und sich nicht bestrahlen lassen, sondern hochdosiertes Cannabisöl zu sich nehmen. Er reist zum Mediziner Donald Abrams, "dem Namensgeber von HIV", so führt ihn Andavolu ein, und lässt sich erzählen, dass dieser täglich Cannabis verschreibt. "Patienten, die eine Krebshandlung durchmachen, leiden an Übelkeit, Depression, Appetitlosigkeit, Insomnia und Schmerzen", sagt Abrams. Anstatt fünf Medikamente zu verschreiben, biete er an, nur eines zu verschreiben: Cannabis. Patienten von ihm würden Cannabisöl zu sich nehmen, zusätzlich zur klassischen Krebsbehandlung. Testergebnisse von Tieren deuten darauf hin, dass Cannabis "Anti-Krebs-Aktivitäten" haben könnte. Ob das auch für Menschen gelte, dieser Rückschluss lasse sich nicht kausal herleiten.

Mit Ellen Page nach Japan

Dass Andavolu unfassbar high wird, nachdem er das Konzentrat zu sich nimmt, ist erwartbar. Aber das Thema an sich ist klassisches Vice-Gebiet. Zwischen abgefahren und gefährlich, What the fuck und meinen die das ernst?

In Gaycation reist die lesbische Schauspielerin Ellen Page mit ihrem schwulen Freund Ian Daniel nach Japan und checkt die LGBTQ-Szene aus. Dass die beiden selbst homosexuell sind, ist wichtig für die Geschichte. Denn das entscheidet nicht nur, welche Orte besucht werden, sondern auch, wie mit den Protagonisten gesprochen wird. Page und Daniel dürfen in einer sehr intimen Szene dabei sein, die durch ihr Dabeisein (vor allem der Kamera) unfassbar absurd wird. Und sie werden bald auf einen Polizisten treffen, der Homosexuelle nicht nur hasst, sondern auch umbringt.

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Es sind kleine Entscheidungen, die Viceland oft roher und zwei Stufen schriller erscheinen lassen als klassisches Fernsehen. Die gefilmten Menschen ausführlich zu Wort kommen zu lassen, und teilweise über mehrere Tage zu begleiten, gehört dazu. In der ersten Folge von Noisey ist der Vice-Reporter in Bompton in Los Angeles. Der Ort heißt eigentlich Compton, das "B" am Anfang steht für die Bloods-Gang. Kendrick Lamar tritt in Jogginghose, Schlappen und weißem T-Shirt auf. Später stellt sich ein Gang-Mitglied vor die Kamera und zeigt seinen "kalifornischen Zipper" (die nach Schüssen zugenähte Wunde), während Lamar davon redet, was für ein Potenzial in der Gegend liegt. Was vermutlich kein Gegensatz ist, sondern Realität. Dass der Zipper gezeigt wird, setze ich nach vier Stunden mittlerweile voraus.

Ob ich das gut, wichtig oder voyeuristisch finde, weiß ich da längst nicht mehr. Ich habe nicht das Gefühl, dass das hier die klassische Freakshow ist. Die Menschen entscheiden sich für die Plattform, die ihnen geboten wird. Nach vier Stunden funktioniert die Kabelverbindung nicht mehr. Kommt mir aber ganz recht. Zu viel Krassheit muss man auch erst mal verarbeiten.

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