Hörspiel "Ulissas":Wundersame Wendungen

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(Foto: Stefan Dimitrov (Illustration))

Im Hörspiel "Ulissas" bricht das Fantastische immer wieder in die Realität ein. Welch ein Glück für die Heldinnen dieser Geschichte.

Von Stefan Fischer

"Bald treffe ich Gott", freut sich eine Frau: "Das wird die Begegnung schlechthin." Ob sie gläubig ist, sich dem Tod nahe wähnt und fest daran glaubt, dann vor den Schöpfer zu treten, wird in dieser Szene allerdings nicht klar. Vielmehr klingt es sogar so, als hätte die Frau hier im Diesseits einen Termin mit einem Prominenten - dem sie bei dieser Gelegenheit mal ihre Meinung sagen wird. Damit jemand wie Gott auch mal hört, was bei den einfachen Leuten los ist.

Das Hörspiel Ulissas steckt voll solcher rätselhafter und zugleich erfrischender Szenen. Geschrieben hat sie die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector. Sie steht in einer Tradition südamerikanischer Autoren wie Jorge Luis Borges, César Aira und Julio Cortázar, die das Fantastische in die Realität einweben, das scheinbar Unmögliche zum Gegenstand des Alltags machen.

Der perfekte Ort für Intimitäten: ein leeres Stadion

Aus Lispectors Werk, ihren Romanen, Erzählungen und Briefen hat Cordelia Dvorák nun 13 Episoden ausgewählt und für das Hörspiel Ulissas zu einer Odyssee aus weiblicher Perspektive montiert. Kein Heldenepos ist das wie bei Homer. Doch die Reisen, die die Frauen in diesen Geschichten antreten - meistens, ohne sich physisch vom Fleck zu bewegen -, sind mindestens so wunderlich wie die Erlebnisse des Odysseus auf seiner Irrfahrt aus dem Trojanischen Krieg nach Hause.

Die Szenen beginnen allesamt in einer greifbaren Gegenwart, die jedoch stets schnell in eine Welt driftet, in der die Logik der uns vertrauten Realität aufgehoben ist. Da wird dann plötzlich ein Huhn zur Auserwählten, und daran schließt sich eine Henne-Ei-Debatte an, in der es allerdings nicht darum geht, was zuerst da war. Sondern, wer in dieser Beziehung dominiert: das Huhn über sein Gelege oder andersrum.

In einer anderen Episode steht eine Frau vor der Frage, wie sie mit jemandem umgeht, den sie soeben selbst erfunden hat. Und wieder später rätselt eine Alte, was sie von einem Kaugummi halten soll, der ihr die Ewigkeit verheißt. Am Ende befindet man sich als Hörer im Maracanã, dem legendären Fußballstadion von Rio de Janeiro. Es geht aber nicht um Sport, die Ränge und das Spielfeld sind leer. Und doch erscheint das Maracanã als ideale Bühne, als perfekter Zielort dieser Odyssee, um gleich zwei Triumphe zu feiern: Triumphe der Liebe und des Lebens.

Ulissas, Bayern 2, 9. Oktober 2021, 15.05 Uhr.

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