In eigener Sache:"Kein Verstoß gegen die publizistischen Grundsätze"

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Der Deutsche Presserat hat die Beschwerden über die SZ-Berichterstattung zur Flugblattaffäre Anfang Dezember zurückgewiesen. (Foto: Christoph Hardt/IMAGO/Future Image)

Der Deutsche Presserat erklärt ausführlich seine Haltung im Fall Aiwanger. Die SZ dokumentiert die erste nun vorliegende Begründung, eine weitere folgt noch. Der Presserat hat alle Beschwerden über die SZ-Berichterstattung zurückgewiesen.

Der Deutsche Presserat hat am 5. Dezember 2023 entschieden, dass die Berichterstattung der SZ im Fall Hubert Aiwanger nicht zu beanstanden war. Jetzt liegt eine erste ausführliche Begründung des Presserats vor, die wir an dieser Stelle dokumentieren.

An dem veröffentlichten Verdacht, Aiwanger habe in seiner Jugend ein antisemitisches Flugblatt verfasst, bestand ein erhebliches öffentliches Interesse. Die Vorwürfe standen in eklatantem Widerspruch zu Aiwangers Ämtern als Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident Bayerns. Zwar war Aiwanger zu dem Zeitpunkt, auf den sich die Vorwürfe bezogen, noch nicht volljährig. Jedoch waren die Vorwürfe so gravierend, dass sein Persönlichkeitsschutz nach Ziffer 8 des Pressekodex vor dem öffentlichen Interesse zurücktreten musste (Anmerkung der Redaktion: Die betreffenden Ziffern des Pressekodex sind am Ende des Textes nachlesbar).

Gerade zum Zeitpunkt wenige Wochen vor der Landtagswahl war es für die Öffentlichkeit relevant zu erfahren, welche gravierenden Vorwürfe gegen Aiwanger im Raum standen. Die Mitglieder des Beschwerdeausschusses sind sich einig: Das Flugblatt, welches der Redaktion vorlag, ist ein präzise ausformuliertes, menschenverachtendes Dokument und damit keine "Jugendsünde". Ein Politiker muss hinnehmen, auch nach 35 Jahren mit einem solchen Dokument öffentlich konfrontiert zu werden, zumal Hubert Aiwanger unstreitig mit dem Flugblatt zu tun hatte - er selbst hat aufgrund der Berichterstattung eingeräumt, es in seiner Schultasche bei sich getragen zu haben.

Anders als von einigen Beschwerdeführern kritisiert, behauptete die Redaktion auch nicht, Aiwanger habe das Flugblatt verfasst. Sie äußerte lediglich den Verdacht, dass er das Flugblatt verfasst haben könnte. Bereits die Überschrift "Aiwanger soll als Schüler antisemitisches Flugblatt verfasst haben" macht hinreichend deutlich, dass es sich hier um eine Vermutung und nicht um eine Tatsache handelt.

Ebenso falsch ist die Behauptung einiger Beschwerdeführer, Hubert Aiwanger habe keine Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen. Die Redaktion stellte im Artikel klar, dass sie Aiwanger vor der Veröffentlichung zu den Vorwürfen befragt hat. Sie hat gegenüber dem Presserat zudem deutlich gemacht, dass sie Herrn Aiwanger ausreichend Zeit für eine Stellungnahme eingeräumt hat. Das Dementi Aiwangers hat die Redaktion im Artikel ebenfalls veröffentlicht. Eine Vorverurteilung im Sinne einer einseitigen, unausgewogenen "Kampagnenberichterstattung" liegt nach Ziffer 13 des Pressekodex damit nicht vor.

Gleichzeitig hat die Redaktion vor der Veröffentlichung einen Mindestbestand an Tatsachen recherchiert, der den von ihr geäußerten Verdacht hinreichend untermauert. So beruft sie sich im Text auf mehrere Informanten, die bestätigen, Aiwanger sei vom Disziplinarausschuss der Schule für das Flugblatt zur Verantwortung gezogen worden. Auch in der Stellungnahme gegenüber dem Presserat hat die "Süddeutsche Zeitung" transparent gemacht, dass sie unterschiedliche Personen zu den Vorwürfen befragt hat. Zudem hat sie auch entlastende Stimmen zu Wort kommen lassen. Die Redaktion ist damit ihrer Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex nachgekommen.

Es ist zudem unerheblich für die Glaubwürdigkeit der zitierten Aussagen, dass keiner der Zeugen in der streitgegenständlichen Berichterstattung namentlich genannt wurde. Die Redaktion hat im Artikel erklärt, dass die Informanten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung u. a. aus Sorge vor dienstrechtlichen Konsequenzen anonym bleiben wollten. Nach Ziffer 5 des Pressekodex ist eine solche vereinbarte Vertraulichkeit auch zu wahren: "Hat der Informant die Verwertung seiner Mitteilung davon abhängig gemacht, dass er als Quelle unerkennbar oder ungefährdet bleibt, so ist diese Bedingung zu respektieren." Auch die Interessenlagen der Zeugen musste die Redaktion im Interesse des Informantenschutzes nicht bekannt machen. Ausschlaggebend ist allein, dass die Redaktion die von den Zeugen vorgebrachten Fakten ausreichend überprüft hat.

Die Mitglieder des Presserats diskutierten, ob die nur schrittweise Offenlegung des Sachverhalts durch die Redaktion in aufeinanderfolgenden Artikeln die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex verletzt haben könnte. Dieses Vorgehen ist unter presseethischen Gesichtspunkten jedoch nicht zu beanstanden, weil der Redaktion von Anfang an hinreichende Anhaltspunkte für den geäußerten Verdacht vorlagen.

Ebenso nicht zu beanstanden sind die von einigen Beschwerdeführern kritisierten Äußerungen zum Buch "Mein Kampf" sowie dem wahrscheinlichen Alter Hubert Aiwangers zum Zeitpunkt des Flugblatts. Mehrere Personen hatten gegenüber dem Presserat geäußert, die Redaktion habe den falschen Eindruck erweckt, das Lesen von "Mein Kampf" sei verboten. Diesen Eindruck hat die Redaktion jedoch zu keinem Zeitpunkt erweckt. Das Buch selbst als verboten zu bezeichnen, ist dagegen korrekt: So war die Erstellung, der Verkauf und der Erwerb von Neupublikationen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Flugblatts durch den Freistaat Bayern untersagt.

Auch die Angabe der Redaktion, Aiwanger sei zum vermutlichen Zeitpunkt der Vorwürfe 17 Jahre alt gewesen, verstößt nicht gegen die Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex. Einige Beschwerdeführer hatten der Redaktion vorgeworfen, er sei damals erst 16 Jahre alt gewesen, da der im Flugblatt angegebene "Einsendeschluss" zeige, dass das Flugblatt vor dem 01.01.88 in Umlauf gewesen sei. Dass das Blatt vor diesem Zeitpunkt in Umlauf gelangte, lässt sich allerdings aus dieser Datumsangabe nicht zwingend schließen, zumal diese Zahlen auch als Code für "Adolf Hitler" und "Heil Hitler" (A = 1. Buchstabe; H= 8. Buchstabe im Alphabet) gewählt worden sein können. Die Redaktion durfte sich deshalb auf die Angaben der Informanten verlassen, die den Tatzeitpunkt übereinstimmend angegeben hatten, Hubert Aiwanger sei zum Zeitpunkt der vorgeworfenen Taten 17 Jahre alt gewesen.

Von öffentlichem Interesse war auch die Veröffentlichung des antisemitischen Flugblatts durch die Redaktion. Einige Beschwerdeführer hatten der "Süddeutschen Zeitung" vorgeworfen, durch die Abbildung werde das Flugblatt einem sehr viel größeren Personenkreis zugänglich gemacht als demjenigen, dem es ursprünglich zur Verfügung stand. Der Presserat erkennt in der Abbildung des Schreibmaschinenschriftbildes jedoch eine wichtige Belegfunktion, die auch in der späteren Berichterstattung zum Schreibmaschinengutachten eine tragende Rolle spielte. Dass die Redaktion sich das Flugblatt nicht zu eigen machte, sondern sich klar vom Inhalt distanzierte, ist zweifelsfrei erkennbar.

Ebenso deutlich weist der Presserat die Behauptung einiger Beschwerdeführer ab, das Flugblatt könne man nicht als "antisemitisch" bezeichnen, "weil kein Jude erwähnt" werde. Die im Flugblatt enthaltene Auflistung ausgelobter Preise ("Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz"; "kostenloser Genickschuss", "kostenlose Kopfamputation durch Fallbeil") mit dem "Erfüllungsort Vergnügungsviertel Auschwitz und Nebenlager" verharmlost die in den Konzentrationslagern praktizierten Vernichtungsmethoden der Nationalsozialisten und verhöhnt damit deren - zuvorderst jüdische - Opfer. Die Einordnung als "antisemitisch" ist daher eine zulässige Meinungsäußerung.

Der zuständige Beschwerdeausschuss des Presserats ist auf dieser Basis zu folgendem Ergebnis gekommen: "Insgesamt liegt damit kein Verstoß gegen die publizistischen Grundsätze des Deutschen Presserats vor"; die hiermit abgehandelten Beschwerden seien unbegründet. Diese Entscheidung fiel mit sechs Ja-Stimmen bei einer Enthaltung.

Die Regeln des Pressekodex, um die es bei der Prüfung der Beschwerden ging, lauten wie folgt:

Ziffer 2 - Sorgfalt

Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. Ihr Sinn darf durch Bearbeitung, Überschrift oder Bildbeschriftung weder entstellt noch verfälscht werden. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen. Symbolfotos müssen als solche kenntlich sein oder erkennbar gemacht werden.

Ziffer 5 - Berufsgeheimnis

Die Presse wahrt das Berufsgeheimnis, macht vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis. Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.

Ziffer 8 - Schutz der Persönlichkeit

Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein. Die Presse gewährleistet den redaktionellen Datenschutz.

Ziffer 13 - Unschuldsvermutung

Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.

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In eigener Sache
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