Moritz Hürtgen sitzt vor einem Blatt Papier, darauf 66 kleine Kästchen, die Kästchen sind leer, und das ist ein Problem. Er greift nach einem Bleistift.
Frankfurt-Bockenheim, ein Hinterhof, Erdgeschoss. Sein Büro ist verglast, die Tür nur angelehnt. Der Schreibtisch wirkt auch deshalb so groß, weil er so leer ist. Keine Fotos, kein Kram. Anfang des Jahres hat Moritz Hürtgen hier die Satirezeitschrift Titanic übernommen. Seither geht es für ihn nicht nur darum, die 66 Kästchen, die 66 Seiten des Heftes zu füllen. Es geht auch um die Frage, wie Satire funktioniert. Wie sie heute funktioniert.
Moritz Hürtgen, 30, steht auf, er will das Archiv zeigen. In hohen Regalen stapeln sich alte Hefte, manche von Folie umhüllt, manche in Pappkartons verpackt, die Stapel liegen auf Kante und sind mit Zettelchen beklebt. Jahr, Monat, Erscheinungstag. Vielleicht muss man hier anfangen: Die erste Ausgabe lag im November 1979 an den Kiosken. Ein paar Schriftsteller und Zeichner hatten sich zusammengetan, sie kannten sich von der Zeitschrift Pardon und wollten etwas Eigenes machen. "Titanic - das endgültige Satiremagazin". Preis: vier Mark. Fotos: viele schwarz-weiß. Im Impressum standen die Namen von Lionel van der Meulen, Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid. Im Editorial erklärten sie: "Wir sind, hören Sie zu, Messieurs, pro Sozialismus, aber auch pro Anarchie, pro bourgeoise Wohlanständigkeit und anständige Wollsocken, aber auch pro klassische Weiber und eine komödiantische Religion", so geht das immer weiter, dann schreiben sie, was ihr Ziel ist: "ein wenig herumgranteln in einer ohnehin grandiosen Zeit".
Keine Zeitung wird gern gerügt. Aber für die Titanic bedeutet das erstmal Aufmerksamkeit
Und so grantelten die Redakteure erst gegen Kanzler Helmut Schmidt, dann gegen Kanzler Helmut Kohl, den sie "Birne" nannten und den Hans Traxler auch so zeichnete, auf einem Cover hat er die Hemdsärmel hochgekrempelt, der Bauch wölbt sich über den Gürtel, seine Hose wirft Falten. Daneben weiße Druckbuchstaben: "Kohl schon wieder 10 Gramm leichter - Ist es Aids?" Man kann das witzig finden oder gemein.
Auf dem Tisch im Konferenzraum liegt ein Berg aus Zeitungen, Hürtgen schiebt sie mit dem Unterarm beiseite. Zeit, über sein eigenes Gegrantel zu reden.
Das erste Heft bekam er von seinem Onkel, er weiß nicht mehr, wann genau das war, aber er weiß, dass er viel nicht verstand, man braucht vier, fünf Hefte, um den Humor zu verstehen, sagt er, und als er ihn verstanden hatte, bewarb er sich als Praktikant. Er schrieb Texte für die Rubriken: "Briefe an die Leser", das sind Spitzen gegen Prominente, "Vom Fachmann für Kenner", das sind kluge und lustige Alltagsbeobachtungen. Später an der Universität - Hauptfach Germanistik - gab er eine Bachelorarbeit über Robert Gernhardt und Thomas Gsella ab, der eine war Titanic-Gründer, der andere Chefredakteur, er hätte damit bestanden, aber im Nebenfach fehlten ihm Punkte, auch egal, er hatte ein Angebot aus Frankfurt. 2013 wurde er Redakteur. Konsequenterweise. Er hat die Titanic ja sozusagen schon studiert.
Moritz Hürtgen ist ein schmaler Mann mit schwarzem Rollkragenpulli. Er spricht ruhig, er gendert dabei. Hürtgen sagt zum Beispiel "Kolleginnen und Kollegen". Nur manchmal klingt er, als würde er Texte aus der Titanic vorlesen, dann werden die Sätze kurz und der Ton sarkastisch. Wenn man ihn zum Beispiel fragt, wieso er jetzt Chefredakteur geworden ist, sagt er: "Außer mir wollte es niemand machen." Aber das stimmt nicht ganz. In den vergangenen 40 Jahren hat der Presserat die Titanic mehrmals gerügt, Menschen haben gegen die Cover geklagt. Juli 2006, ein Foto von Kurt Beck: "Problembär außer Rand und Band: Knallt die Bestie ab!" Beck gewann vor dem Landgericht Hamburg. Juli 2012, ein Foto von Benedikt XVI., seine Soutane ist urinbeschmiert. "Die undichte Stelle ist gefunden!" Am Tag der Verhandlung zog der Vatikan die Klage zurück, aber an den Kiosken waren die Ausgaben vergriffen.
Keine Zeitung wird gerne gerügt, kein Verlag gerne verklagt. Für die Titanic bedeutet beides erst mal Aufmerksamkeit dafür, dass sie mal wieder ordentlich überzogen haben.
Moritz Hürtgen sagt das so nicht, aber natürlich muss die Titanic schauen, wo sie bleibt. Lag das Heft früher in vielen linken Studentenbuden herum, haben heute noch 20 500 Leserinnen und Leser ein Abo. Wurden Anfang 1980 noch 122 900 Hefte gedruckt, waren es zehn Jahre später nur noch 110 915 und heute 99 713. Zur Zahl der verkauften Hefte möchte Hürtgen nichts sagen. Die Konkurrenz ist größer geworden. Mittlerweile laufen in der Mediathek die Heute Show und das Neo Magazin Royale, kostenlos. Bei Facebook, Twitter, Instagram postet auch der Postillon. Hürtgen sagt, dass ihnen das nichts ausmache, mehrere Satireformate könnten gut nebeneinanderstehen.
Wenn er morgens in die Redaktion kommt, blättert er Tageszeitungen und Magazine durch. Bunte, Brand eins, konkret, taz, FAZ, Focus, SZ. Er beobachtet die Nachrichten, und er beobachtet sich dabei. Manchmal findet er ein Thema, bei dem er auf eine bestimmte Wendung wartete, eine Eilmeldung - dann startet er eine Aktion, und natürlich geht es dabei um Aufmerksamkeit.
Einmal gab er sich als Russe Juri aus und bot Kevin Kühnert an, dessen Kampagne gegen die große Koalition mit gefälschten Accounts zu unterstützen. "Neue Schmutzkampagne bei der SPD!", titelte die Bild . "Es geht um brisante Mails, den Juso-Chef und einen Mann namens Juri." Eigentlich ging es darum, dass die Bild auf die Titanic reingefallen war. Ein anderes Mal benannte er seinen Twitter-Account in "hr Tagesgeschehen"* um und schrieb, das Bündnis von CDU und CSU sei aufgekündigt. Zehn Retweets, 100 Retweets, 500 Retweets. Und weil er auch seine Telefonnummer angab - "Ihr heißer Draht in die hr-Redaktion" -, rief unter anderem das ZDF an. Hürtgen sagte, er sei nur der Social-Media-Praktikant, die Kollegen seien auf dem Weg zu Volker Bouffier nach Wiesbaden, und vielleicht sollten sie das auch tun: selbst recherchieren.
Sind solche Aktionen Spaß oder Ernst?
"Spaß."
Können Sie verstehen, dass Leute den Spaß fahrlässig finden?
"Nein. Wir denken uns Wahrheiten aus und bringen sie dort unter, wo sie gebraucht werden."
Vielleicht ist ja der Plural von Wahrheit das Problem. Gerade in diesen Zeiten.
"Ich finde es nicht verkehrt, wenn für einen kurzen Moment zwei Wahrheiten nebeneinanderstehen."
Mit der Zeit hat er gelernt, über wen man Witze machen kann, über wen nicht. Alte Männer eigneten sich gut. Je länger sie irgendeine Form von Macht hätten, desto komischer würden sie. Kanzler Kohl, Papst Benedikt, Markus Söder. Witze auf Kosten von Schwachen? Natürlich nicht, er sagt es trotzdem. Auch Cover mit Merkel sind schwierig. "Unabhängig von ihrer Politik ist sie eine ganz angenehme Person. Selbst Satirefreunde verzeihen es uns nicht, wenn wir hart mit ihr sind." Und weil das dann doch unerwartet kommt, sagt er noch: "Ganz ernst gesprochen jetzt."
Trotzdem haben sie es auf dem aktuellen Cover mit der Kanzlerin versucht. Merkel trägt Blazer, Halskette, Schnurrbart, der Schnurrbart ist schwarz und buschig und vielleicht ist "tragen" das falsche Wort. Er ist ihr ins Gesicht gephotoshopt. In einer Sprechblase steht: "Uns gelingt das." Die entfremdete Merkel als neuer Kanzlerkandidat. Man kann das witzig finden oder abgegriffen.
Moritz Hürtgen sagt: "Die Titanic hatte immer einen eigenen Ton." Während er erzählt, kommen elf Zeichnerinnen und Zeichner, Redakteurinnen und Redakteure, Stühlerücken am Konferenztisch. Gleich besprechen sie das neue Heft, die nächsten 66 Kästchen, alles noch geheim.
Eine letzte Frage: Was ist der eigene Ton der Titanic? "Kann ich schlecht erklären." Kurze Pause. "Echt nicht. Viel ergibt sich, wir haben eine Idee, dann ergänzt sie jemand, dann ergänzt sie jemand anderes. Es ist nicht so, dass wir hier die ganze Zeit lachen. Ein guter Witz ist Handwerk." Dann lacht er doch.
*Anmerkung der Redaktion: Hürtgen benannte seinen Twitter-Account in "hr Tagesgeschehen" um. In einer früheren Version war an dieser Stelle fälschlicherweise von "@hr_tagesthemen" die Rede.