Ranking-Skandale im deutschen Fernsehen:Hitparade der Untoten

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Die Ranking-Show Deutschlands Beste im ZDF wurde manipuliert. (Foto: dpa)

Die Nummer eins ist immer verdächtig. Die Voting-Skandale bei ARD und ZDF zeigen die Ranglisten im Fernsehen als das, was sie sind - Ausdruck und Mittel eines zutiefst sinnlosen Wettbewerbs.

Von Thomas Steinfeld

Wer hat den Klappstuhl erfunden, wer den Kreisverkehr, wer ist zuerst auf den Gedanken gekommen, die Pizza mit Käse zu belegen? Man weiß es nicht, und doch prägen diese Dinge das tägliche Leben in einem Maße, dass es sich wohl lohnte, über die Menschen an ihrem Anfang nachzudenken. Und wer hat die Rangliste erfunden, so wie sie sich in den gedruckten wie in den audiovisuellen Medien großer und immer größer werdender Beliebtheit erfreut?

Zu ihrem Ursprung gibt es wenigstens eine Legende: Sie trägt sich in den frühen Fünfzigerjahren zu und erzählt, wie ein junger Mann einem in existenzielle Not geratenen Medium zu neuer Blüte verhalf: Denn Todd Storz, so hieß der junge Mann, war Geschäftsführer eines Radiosenders in Omaha, Nebraska, und dem Rundfunk mit seinen festen Formaten, mit seinen Seifenopern, Komödien und Orchesterdarbietungen lief das Publikum davon. Es wollte lieber fernsehen. Während eines Kneipenabends, so geht die Legende weiter, fielen Todd Storz die noch jüngeren Leute auf, die immer wieder zur Jukebox gingen, um sich immer wieder dieselben Lieder vorspielen zu lassen. Aus dieser Beobachtung gingen nicht nur der Popsender hervor, der Tag und Nacht dieselben Lieder spielt, sondern auch die "Top 40", die amerikanische Hitparade, so wie sie jede Woche beharrlich mit Platz 40 beginnt und auf Platz eins ihre Epiphanie erlebt.

Wenn der NDR die schönsten Gärten seines Sendegebiets oder der WDR das beste Vanilleeis Dortmunds vorstellt, tut er etwas ganz Ähnliches: Er sichtet ein festes Repertoire von Gegenständen eines Typs oder eines Genres. Dann lässt er sein Publikum abstimmen - so wie Todd Storz die Spiellisten der Jukeboxes in Omaha und Umgebung sowie die Verkaufszahlen von Schallplatten erfassen ließ. Und aus dem Ergebnis gestaltet er ein Programm.

Nur was sich bewegt, wird beachtet

Das Verfahren lässt sich variieren, mithilfe von Hörern oder Zuschauern, die sich per Telefon oder Internet melden, mithilfe von demoskopischen Untersuchungen, oder man bittet die Hörzu darum, ihre Leser abstimmen zu lassen. Doch heraus kommt immer dasselbe: Ein zwar festes, aber mehr oder weniger totes Repertoire wird mit dem Mittel einer Rangliste in etwas vorübergehend Lebendiges verwandelt. Und auch wenn es nichts zu gewinnen gibt und der Nutzen der ganzen Veranstaltung sehr beschränkt sein mag, so wird doch, schlicht durch das Abwärtszählen bis hinunter zum ersten Platz - Fanfaren, Trommelwirbel, Applaus -, eine kleine Erregung geschaffen, die ihr Publikum wenigstens für einen Nachmittag beschäftigt.

Es liegt eine tiefe Wahrheit in diesem Verfahren: Denn nur, was sich bewegt, wird beachtet, und das gilt nicht nur für die Ermittlung des komischsten Komikers im Norden (auch dies ein Programm des NDR), sondern für alles und jedes und schließlich auch für die Werke Jan Vermeers oder Dieterich Buxtehudes.

Ranglisten sind Ausdruck einer Verwandlung von Belanglosigkeit in Quote, wie sie erst bei den Privatsendern praktiziert und dann von den Öffentlich-Rechtlichen kopiert wurde. Sie sind aber auch Ausdruck und Mittel des Wettbewerbs, und sie vermehren sich im selben Maße, wie die Konkurrenz zu einem Verfahren wird, das alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt.

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Seit wann weiß man, wer die besten Tennisspieler der Welt sind? Seit den frühen Zwanzigerjahren, wobei es bei der Ermittlung der Rangliste erst seit der Einführung des ATP-Rankings im Jahr 1973 nach einigermaßen nachvollziehbaren Regeln zugeht. Seit wann werden akademische Institutionen in Ranglisten geführt? Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei es zuerst nicht um Institutionen ging, sondern um Versuche einer angewandten Psychologie, sich der Entstehungsbedingungen außerordentlich erfolgreicher Personen zu vergewissern - das "ranking" im heutigen Sinne entsteht erst in den Fünfzigerjahren. Seit wann werden Einschaltquoten gemessen? Seit den Sechzigerjahren, wobei es dabei von vornherein und nach wie vor darum geht, wie viele Menschen eine Werbeeinblendung erreicht. Und seit wann werden Menschen gemessen? Seit der vorvorigen Jahrhundertwende, als eine neue akademische Disziplin mit Namen "Arbeitswissenschaft" auf den Gedanken verfiel, den Arbeiter in seinem Verhältnis zur Maschine verbessern zu wollen, was zur Folge hatte, dass sich dann auch bald die Angestellten - zuerst unter dem Primat der "Motivation", dann dem der "Kreativität" - zu optimieren hatten.

Ranglisten sind hierarchische Gebilde. Doch innerhalb der Hierarchie verfahren sie egalitär. Todd Storz war es gleichgültig, ob die meistgespielten Lieder in seiner Hitparade dem Swing, dem Rock 'n' Roll oder der Marschmusik zugehörten. Der NDR erkennt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem privaten Landschaftsgarten von Stockseehof und dem öffentlichen Palmengarten in Bad Pyrmont. Und dem ZDF, um auch daran zu erinnern, gelten die Unterschiede zwischen Margot Käßmann und Franz Beckenbauer wenig, wenn es darum geht, die "Besten" zu ermitteln - denn diese Kategorie, eben das "Beste", besitzt ja den dramaturgischen Vorteil, dass es völlig gleichgültig ist, aus welchem Grund und mit welchen Mitteln jemand in der Rangliste irgendeines Gewerbes an die Spitze rückte. Denn es ist ja auch das Gewerbe gleichgültig, weil es nur noch um den Wettbewerb als solchen geht. Aber wenn es so weit ist, ist längst schon etwas anderes geschehen: Dann hat nämlich das Gesetz der Wiederholung gegriffen, in dem Bekanntheit vor allem dadurch erworben wird, dass etwas bekannt ist, und ein Rang vor allem deswegen entsteht, weil er schon da ist.

Sinnlose Wettbewerbe

Damit so etwas, nämlich eine völlig abstrakte Rangliste, ein "ranking", in dem es weder um Verdienst, Leistung noch um sonst irgendwelche erkennbaren individuellen Attribute geht, überhaupt entstehen kann, in dem es also nur noch um das "ranking" selber geht, muss noch etwas Zweites passiert sein: Die Rangliste muss sehr vielen Menschen in Fleisch und Blut übergegangen, sie muss ihnen zur Natur geworden sein.

Dass dabei vor allem sinnlose Wettbewerbe entstehen, liegt in der Sache selbst. Denn das Erste, was ein "ranking" hervorbringt, ist eine Idee - und eine Bürokratie - der Messbarkeit, und diese muss sich die Welt so zurechtlegen, dass sie messbar ist. Da wird dann einiges übersehen und vieles vergessen, und am Ende steht ein Totalitarismus der Liste, in dem Nützliches und Unnützes ohne Übergang zusammenfließen. Wundern tun sich darüber nur wenige, denn nicht nur die Privatsender, sondern auch die Öffentlich-Rechtlichen funktionieren hier zuverlässig als Volksbildungsanstalten: Sie spiegeln und verstärken den landläufigen Hang zur Mobilmachung von allem und jedem, das Prinzip des universalen Wettbewerbs und den Idealismus der Perfektionierung vor allem seiner selbst. Denn es ist ja unwahrscheinlich, dass sich Viktoria Freifrau von dem Bussche vom Listenwesen verabschiedet, nachdem sich nur ein Prozent der abstimmenden Zuschauer des NDR für ihren Garten entschied. Denn auch dies gehört zur Rangliste: ihre Vergänglichkeit. Und die Gewissheit, dass schon bald das nächste "ranking" kommt. Und da heißt es, sich in Form zu bringen.

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Todd Storz wusste, was er erfunden hatte. Und weil er das wusste, stellte er drei Regeln für seinen Sender auf: "Der Hörer will seine Lieblingsstücke immer wieder hören", lautete die erste Botschaft. "Die Programmauswahl wird allein vom Publikum bestimmt", war die zweite. Und die dritte: "Der Discjockey darf nicht stellvertretend für das Publikum agieren." Es dauerte aber nicht lange, bis das neue Format seinen großen Skandal hatte. Er hörte auf den Namen "Payola" - das Wort ist eine Zusammensetzung aus "to pay" und dem Namen einer Plattenfirma, nämlich Victrola - und handelte davon, dass die Musikindustrie für das Senden bestimmter Lieder zahlte. Selbstverständlich mussten die Moderatoren deswegen in die Listen eingreifen: Aber warum hätten sie das nicht tun sollen: Denn wie repräsentativ ist schon ein "voting", wie zuverlässig sind Verkaufszahlen, die in Schallplattenläden erhoben wurden, und ist nicht überhaupt der Geschmack des Publikums eine zweifelhafte Angelegenheit?

Das System "Payola" verschwand aus dem amerikanischen Rundfunk, als das Rechenwesen der Hitparade im Jahr 1991 dem Fachmagazin Billboard übertragen wurde, das seinerseits mit exaktem empirischem Material zu den Verkaufszahlen arbeitet. Merkwürdig nur, dass ungefähr zur selben Zeit das öffentliche Interesse an Hitparaden zu einer kleinen Leidenschaft von Spezialisten schrumpfte.

Das "ranking" und der Betrug gehören zusammen, der Beliebigkeit der Gegenstände und Kriterien wegen. Und weil das so ist - und weil es beim deutschen Fernsehen, anders als beim ADAC, nicht einmal um Geld oder Macht, sondern bloß um Einschaltquoten geht -, werden sich die Unterhaltungsdirektoren von ZDF und WDR und NDR nun wundern, wenn sie einer solchen Manipulation wegen sich nun entschuldigen oder gar ihr Amt aufgeben müssen. Vielleicht sagen sie sich jetzt, sie hätten eine Dummheit begangenen. Aber das ist eine Verharmlosung. Das Veranstalten sinnloser Wettbewerbe ist eine viel größere Dummheit.

© SZ vom 14.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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