Türkischer Journalist:"Sie wollten mir das Leben nehmen"

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Polizeibeamte nehmen den Fotografen Bülent Kılıc fest. (Foto: HACO BISKIN/AFP)

Bülent Kılıc will in Istanbul eine Pride-Parade fotografieren - bis er von Beamten gewaltsam festgenommen wird.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Als die Bilder vom Tod George Floyds um die Welt gingen und im Video zu sehen war, wie der US-Polizist Derek Chauvin seinem Opfer minutenlang die Luft abschnürt, ließ der türkische Staatschef seinem Zorn freien Lauf und nahm kein Blatt vor den Mund. "Ich protestiere gegen diese unmenschliche Mentalität", sagte Recep Tayyip Erdoğan zu der Gewalttat des amerikanischen Polizeibeamten. Jetzt hat sich aber gezeigt, dass türkische Polizisten bei Festnahmen und Demonstrationen genau dieselben Methoden anwenden. Und das auch gegenüber Journalisten. Von ganz oben aber ist bisher noch nichts zu hören.

Bei einem von den Behörden seit einigen Jahren stets untersagten Istanbuler "LGBTI+ Pride-Marsch" hatten Beamte Bülent Kılıc, einen türkischen Fotografen der Nachrichtenagentur AFP, zu Boden geworfen. Kılıc hatte den trotz des Verbots stattfindenden Marsch für AFP fotografieren wollen. Auf Bildern anderer Journalisten ist zu sehen, wie einer der Beamten dem am Boden liegenden Kılıc das Knie auf den Hals setzt und ihm dabei offenbar die Luftzufuhr abdrückt. Kılıc zufolge wollte ihn ein Polizist am Fotografieren hindern, er habe ihm die Kamera wegreißen wollen. Als er sich zur Wehr gesetzt habe, sei er mit Gewalt zu Boden gebracht worden. Der Marsch am 26. Juni war von der Polizei mit Tränengas und Knüppeln aufgelöst worden. Kılıc wurde anschießend mehrere Stunden auf einer Polizeistation festgehalten, später aber freigelassen.

Ungewöhnlich: Die Istanbuler Polizei gestand nun öffentlich einen Fehler ein

Kılıc selbst spricht nun in den sozialen Medien von einem "Mordversuch". "Sie wollten mir das Leben nehmen, mir den Atem abschnüren", schrieb er. Der Fotograf will nun vor dem türkischen Verfassungsgericht, dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof "oder welchem Gericht der Welt auch immer" klagen, "solange ich lebe".

Der Journalist hatte in den vergangenen Jahren immer wieder bei Polizeieinsätzen fotografiert, zuletzt bei den mit Gewalt aufgelösten Studentenprotesten an der Bosporus-Universität in Istanbul. Diese hatten sich gegen den neuen, von der Regierung und nicht vom Wissenschaftlerkolleg ausgewählten Rektor gerichtet. Eines von Kılıcs jüngsten Fotos zeigt einen Polizeibeamten, der bei einem anderen Protest einen Demonstranten auf dieselbe Weise wie im Fall George Floyd mit dem Knie am Hals am Boden hält.

Was ungewöhnlich ist: Die Istanbuler Polizei gestand nun öffentlich einen Fehler ein. Sie sprach zwar von dem legalen Vorgehen gegen den verbotenen Pride-Marsch. Einzelne Teilnehmer hätten "Widerstand geleistet" bei der Auflösung der Versammlung. "Unglücklicherweise war unter die Festgenommenen aber auch der Presseangehörige Bülent Kılıc geraten". Man habe ihn wieder freigelassen, nachdem man seine Identität als Journalist festgestellt habe.

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