Rechtsextremismus:Was die geleakten NSU-Akten aussagen

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Jan Böhmermann widmet sich in seiner Satire-Sendung regelmäßig Unternehmen und kritisiert deren Geschäftspraktiken. (Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Eigentlich sollte der als geheim eingestufte Bericht aus Hessen noch viele Jahre unter Verschluss bleiben, nun werden sie von "ZDF Magazin Royale" und "Frag den Staat" geleakt. Es bleiben allerdings viele Fragen zum NSU-Terror unbeantwortet.

Ein Team um den ZDF-Moderator und Journalisten Jan Böhmermann hat nach eigenen Angaben bisher unter Verschluss gehaltene Akten des hessischen Verfassungsschutzes rund um die rechtsextreme Terrorgruppe NSU veröffentlicht. Publiziert wurde das Dokument gemeinsam von der von Böhmermann moderierten Sendung "ZDF Magazin Royale" und dem Internetportal "Frag den Staat". "Wir glauben, die Öffentlichkeit hat das Recht zu erfahren, was genau in jenen Dokumenten steht, die ursprünglich für mehr als ein Jahrhundert geheim bleiben sollten", heißt es auf der dazu eingerichteten Webseite nsuakten.gratis.

Bei dem seit Freitagabend abrufbaren Dokument handelt es sich laut Deckblatt um einen Abschlussbericht zur Aktenprüfung im Landesamt für Verfassungsschutz Hessen im Jahr 2012. Der Bericht ist auf den 20. November 2014 datiert.

Um die Quellen zu schützen, seien die Akten komplett abgetippt und ein neues Dokument erstellt worden, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen, schreibt Böhmermann auf Twitter. Eine offizielle Bestätigung der Authentizität des Dokuments stand am Samstagmittag noch aus, das hessische Landesamt für Verfassungsschutz will die geleakten Dokumente prüfen. Nach Einschätzung der Linken handele es sich aber offenkundig um das Original. "Sie scheinen vollständig und inhaltsgleich transkribiert worden zu sein", sagte der innenpolitische Sprecher der Linken im hessischen Landtag, Torsten Felstehausen, am Samstag der Deutschen Presse-Agentur. Man habe die Texte nebeneinander gelegt und verglichen. Die Abgeordneten hätten im Landtags-Untersuchungsausschuss Zugang zu den Originalakten gehabt. Er sagte, endlich könne sich die Öffentlichkeit ein eigenes Bild davon machen, wie der Verfassungsschutz über Jahre mit Hinweisen auf rechten Terror umgegangen sei.

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Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im hessischen Landtag, Mathias Wagner, teilte am Sonntag in einer Stellungnahme mit, dass die Schlussfolgerungen des "ZDF Magazin Royale" und von "Frag den Staat" sich deckten mit den Bewertungen, die bislang aus Sicht der Grünen alle gezogen hätten, die die Akten gelesen hätten. Wagner schreibt: "Die Unterlagen zeichnen ein desolates Bild über den Zustand des Verfassungsschutzes in den damaligen Jahren. Er war in keiner Weise auf die Herausforderungen eines zunehmenden Rechtsextremismus in unserem Land vorbereitet. Dabei wäre genau das seine Aufgabe gewesen: das frühzeitige Erkennen von Gefährdungen für unsere Demokratie. Dieser Aufgabe ist er zu der damaligen Zeit nicht nachgekommen."

Darüber hinaus findet Wagner: Die Veröffentlichung des "ZDF Magazin Royale" werfe erneut sehr grundsätzliche Fragen über die Kontrolle der Arbeit des Verfassungsschutzes auf. Denn zum einen gebe es ein berechtigtes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit. Zum anderen liege es in der Natur der Sache, dass Ermittlungen und Beobachtungen der Sicherheitsbehörden nicht öffentlich geführt werden könnten. Daher stehe es nicht im freien Benehmen Einzelner, ob solche Informationen veröffentlicht werden oder nicht.

Fraglich ist nun, inwiefern dem ZDF, Jan Böhmermann und dem Portal "Frag den Staat" rechtliche Konsequenzen drohen. Zwar dürfen Journalisten seit dem Cicero-Urteil 2007 Ergebnisse geheimer Dokumente, die ihnen zugespielt werden, öffentlich machen, doch ein gesamtes Dokument im Internet zu veröffentlichen, könnte wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat strafrechtlich relevant werden. Das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen erklärte auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes, das im Internet veröffentlichte Dokument werde geprüft; insbesondere im Hinblick auf "enthaltene personenbezogene Daten und tangierte Staatswohlbelange" stehe das Landesamt "im Austausch mit den Polizei- und Verfassungsschutzbehörden".

Die Öffentlichkeit erfuhr erst Jahre später von der internen Untersuchung des hessischen Verfassungsschutzes

Um die Veröffentlichung der sogenannten NSU-Akten gibt es seit vielen Jahren Streit. Dass der hessische Verfassungsschutz seit 2012 intern untersuchte, ob es in den Akten Hinweise auf NSU-Bezüge gegeben habe, wurde der Öffentlichkeit zunächst gar nicht mitgeteilt. Erst 2017 entdeckte die Fraktion der Linken in den Akten des NSU-Untersuchungsausschusses den Hinweis, wonach der damalige hessische Innenminister Rhein fünf Jahre zuvor eine Untersuchung samt Abschlussbericht angewiesen hatte.

Hinterbliebene der NSU-Opfer fordern seit Jahren vehement, Einsicht in die NSU-Akten zu bekommen. "Ich will jetzt wissen, was da drinsteht", sagte 2019 Abdulkerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek im Interview mit dem Spiegel. Mehr als 100 000 Personen hatten in einer Petition die Veröffentlichung gefordert. Die Initiatoren der Petition erhofften sich neue Erkenntnisse über die Morde der rechtsextremen Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrunds" (NSU) und mögliche Verbindungen zum Mord an Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Die Tatsache, dass die NSU-Akten zunächst für 120 Jahre, dann nur noch für 30 Jahre, unter Verschluss gehalten werden sollte, sorgte dafür, dass dieser Abschlussbericht schließlich zu einer Art Symbol des Mauerns der Behörden bei der Aufarbeitung des NSU-Terrors geworden ist.

Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) hatte im Mai 2021 die Entscheidung verteidigt, die Akten nicht zu veröffentlichen. "Für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden ist es immanent, dass sie ihre Arbeitsweise nicht für jeden offenlegen können", sagte er damals im Landtag in Wiesbaden. "Ansonsten könnten die Verfassungsfeinde selbst diese Informationen nutzen, um unsere gemeinsamen Werte zu bekämpfen oder Menschen gezielt zu gefährden." Er verwies darauf, dass das zuständige Parlamentarische Kontrollgremium Verfassungsschutz vollumfängliche Akteneinsichtsrechte besitze und jederzeit sämtliche Informationen des Verfassungsschutzes einsehen könne. Mathias Wagner, Vorsitzender der Landtagsfraktion der Grünen, stützte diese Argumentation. Der Verfassungsschutz sei "unter Umständen nicht mehr arbeitsfähig", wenn die NSU-Akten veröffentlicht würden, sagte er damals.

Mit der Veröffentlichung des angeblichen Abschlussberichtes durch das "ZDF Magazin Royale" und "Frag den Staat" haben die Hinterbliebenen zwar früher als erwartet Einsicht in das Dokument bekommen. Doch die Hoffnung auf neue Informationen darüber, wie es dazu kommen konnte, dass der NSU über Jahre unbehelligt zehn Menschen in Deutschland ermordet hat, wird wohl nicht erfüllt werden.

Über den NSU erfährt man in den Akten so gut wie nichts

Die Akten offenbarten ein "mehr als zweifelhaftes Bild" von der Arbeit des hessischen Verfassungsschutzes, heißt es in dem Bericht vom "ZDF Magazin Royale" und "Frag den Staat". So werde deutlich, dass vor allem während der 1990er-Jahre - in denen sich auch die Rechtsterroristen des späteren NSU radikalisiert hätten - der Überblick über gesammelte Daten verloren gegangen sei und aus den Informationen nicht immer Konsequenzen folgten. Laut dem Bericht seien 541 Aktenstücke verschwunden.

Gleichzeitig tauchten in dem Abschlussbericht kaum Angaben zum NSU selbst auf, hieß es. "Wer hofft, in diesen Berichten die Antwort auf offene Fragen zum NSU, Beweise für gezielte Vertuschungsversuche oder gar den Beleg für die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Mordserie zu finden, wird enttäuscht", lautet das Urteil vom "ZDF Magazin Royale" und "Frag den Staat". Besonders erschreckend sei die Erkenntnis des Berichtes, dass "zahlreiche Hinweise auf Waffenbesitz von Rechtsextremisten" angefallen seien, "die zum Zeitpunkt des Informationsaufkommens in der Regel nicht bearbeitet worden waren".

Der NSU hatte über Jahre unerkannt mordend durch Deutschland ziehen können. Die Opfer: neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin. Die Rechtsterroristen verübten außerdem zwei Bombenanschläge mit Dutzenden Verletzten und etliche Banküberfälle. Einer der Morde wurde 2006 in Kassel verübt. Die beiden Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten sich 2011 getötet, um der Festnahme zu entgehen. Als einzige Überlebende des NSU-Trios wurde Beate Zschäpe am 11. Juli 2018 als Mittäterin zu lebenslanger Haft verurteilt und eine besondere Schwere der Schuld festgestellt - auch wenn es nie einen Beweis dafür gab, dass sie selbst an einem der Tatorte war.

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