Dr. Johannes "Joe" Jessen kann Menschen perfekt lesen, innerlich, äußerlich, und auch wenn sie längst tot sind. Dass die junge Frau vor ihm in der Rechtsmedizin keine Prostituierte ist, wie von der Polizei vermutet, sondern Krankenschwester, schlüsselt er, der Psychiater, ratzfatz auf ("Fingernägel sind kurz geschnitten, nicht lackiert, kaum Make-up, einigermaßen praktische Schuhe, stammt aus der Mittelschicht"). Seine analytische Gabe macht ihn für die Fahnder unentbehrlich.
Im vorliegenden Fall hatte Jessen (Ulrich Noethen) es leicht. Er kannte die Tote, sie war mal Patientin bei ihm. Ihre Leiche wurde an einem Friedhof gefunden, verscharrt in der Nähe des Grabs seiner Mutter. Die vielen Stichwunden decken sich mit den Gewaltfantasien seines Patienten Robert Mohren (Nikolai Kinski). Klar, all das kann kein Zufall sein.
Zu ihr, der Nicht-Perfekten, zieht es ihn immer wieder hin
Jessen ist erfolgreich: noble Praxis, Traumhaus auf großem Grundstück mit grinsendem Halloween-Kürbis auf der Veranda, knuddeligem Plüschhasen auf dem Wohnzimmersofa, süßer kleiner Tochter und allzu liebevoller hübscher junger blonder Frau mit samtweichem holländischen Akzent. Später wird er den Zuschauern aus den Herzen sprechen, wenn er zu ihr sagt: "Ich musste mit jemandem reden, der nicht so perfekt ist wie du." Doch auch Jessens Leben hat natürlich Risse. Da sind sein dauernörgelnder Vater, die Parkinson-Erkrankung, die er zu verheimlichen sucht, und seine ehemalige Geliebte Elisa, eine frühere Prostituierte. Zu ihr, der Nicht-Perfekten, zieht es ihn immer mal wieder hin. Als Elisa ermordet wird, fällt der Verdacht auf Jessen, und Kommissar Vincent Ruiz (Juergen Maurer) ermittelt gegen ihn.
Mit Neben der Spur - Adrenalin startet das ZDF eine neue Krimireihe. Sie basiert auf den Bestsellern des australischen Autors Michael Robotham, seine Protagonisten heißen Joe O'Loughlin und Vincent Ruiz, und seine Fälle spielen in London. Das ZDF hat sie nach Hamburg verlegt, sie erzählen die Stadt "von einer ungewohnt düsteren Seite", heißt es im Pressetext. Das stimmt. Fast der ganze Film spielt im Dunkeln, ob draußen oder drinnen, ob bei Jessen daheim, in seiner Praxis oder auf dem Revier, wo die Polizisten wie in Katakomben arbeiten. Soll das ewig Düstere vieler deutscher TV-Krimis mangelnde Dramatik ersetzen?
In diesem Fall hätte das Münchner Regieduo Cyrill Boss und Philipp Stennert ( Neues vom Wixxer, Das Haus der Krokodile) solche Tricks gar nicht nötig. Ihre Verfilmung ist spannend, wenn auch mit erwartbarem Ausgang, Ulrich Noethen überzeugt ebenso wie Burgtheater-Schauspieler Juergen Maurer und Nikolai Kinski (der seinem Vater Klaus immer ähnlicher sieht). Doch wünscht man sich fetzigere Dialoge, weniger Ehekitsch und tiefgründigere Erkenntnisse als Jessens "Ich bin Psychiater geworden, weil ich anderen Menschen helfen will". Und dass ihn sein Gegenspieler Ruiz durchgehend fälschlich einen Psychologen nennt, nervt nicht nur Jessen, sondern sehr schnell auch die Zuschauer.
Neben der Spur - Adrenalin , ZDF, 20.15 Uhr.