Langzeit-Doku im BR:In unserem Land zu unserer Zeit

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Einer der vielen Drehorte: Die Winzerin Frau Pröstler in Zellingen unter der Regie von Wulfes Micky. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz - Agent)

Alltag in Bayern - und doch fesselnd: Wer in "24h Bayern" mit einer Tierärztin in den Allgäuer Kuhställen unterwegs war oder mit einer Schulleiterin in Aschaffenburg, kam am Pfingstmontag nur schwer vom Fernseher los.

Von Sebastian Beck

Es ist der 3. Juni 2016 um 8.19 Uhr, als aus Carmelo Giandinoto für einen Moment die Verzweiflung herausbricht. In Simbach am Inn hat er eine Pizzeria betrieben, bis ihm zwei Tage zuvor das Hochwasser die Existenz fortriss. Giandinoto, der irgendwie an den Schauspieler Danny DeVito erinnert, telefoniert in schlammverschmierten Klamotten um Hilfe. An diesem Tag wird er noch öfter das Wort benutzen, das sich in seinem Slang aus Bairisch und Sizilianisch wie "Schaise" anhört. Er rudert mit dem Arm und ruft also ins Telefon: "Is' alles Schaise, is' alles für die Katze gewesen, die 30 Jahre!"

Menschen wie Giandinoto sind es, die in Erinnerung bleiben nach dem TV-Marathon 24 h Bayern, den das Bayerische Fernsehen von Pfingstmontag morgens um sechs Uhr bis Dienstag um sechs Uhr ausgestrahlt hat. Mehr als hundert Kamerateams versuchten das Unmögliche und dokumentierten einen Tag lang das Leben in Bayern, in Echtzeit: Weil der Gletscherforscher Christoph Meier um 7.53 Uhr von der Höllentalangerhütte zur Zuspitze aufbrach, wird dies auch um 7.53 Uhr gezeigt, nur eben gut ein Jahr später.

Der Stich- und Drehtag für die Echtzeitdoku war der 3. Juni 2016, ein Freitag wie jeder andere, mit Nieselregen über den niederbayerischen Erdbeerfeldern. Der Unglückstag von Carmelo Giandinoto, aber der Glückstag beispielsweise von Maria und Jörg Burghardt, die einander mittags im Rathaussaal von Schliersee das Ja-Wort gegeben haben.

Die Langzeit-Doku lebte von harten Kontrasten: Arm und Reich, Gewinner und Verlierer

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Es sind unzählige solcher Pinselstriche, die Regisseur Volker Heise und all die Autoren von Franz Xaver Bogner über Doris Dörrie bis hin zu Andres Veiel zu einem großartigen Gemälde komponiert haben. 24 Stunden Alltag im Fernsehen - das klingt zunächst nach einer womöglich zähen Angelegenheit. Doch Heise zeigte schon mit 24 h Berlin und 24 h Jerusalem, wie faszinierend das sein kann - und wer erst einmal mit der Tierärztin Birke Steinbach in den Allgäuer Kuhställen unterwegs war oder mit der Schulleiterin Petra Münzel die Kinder in Aschaffenburg begrüßt hatte, kam am Pfingstmontag nur noch schwer vom Fernseher los. 5,3 Millionen Zuschauer meldete der BR am Dienstag und einen Tagesmarktanteil von elf Prozent - fast doppelt so hoch wie an den Pfingstmontagen anderer Jahre.

Es waren gerade die harten Kontraste, von denen die Doku lebte: der Zusammenprall von Lebenswelten, von Glück und Unglück, Arm und Reich, Gewinnern und Verlierern. Während Glaziologe Meier durch den Schnee auf die Zuspitze stapft, lässt Günther Brunner in seinem Krematorium Särge vollautomatisch in die Verbrennungsöfen fahren und wirkt dabei auch noch ziemlich lässig mit seinen langen Haaren. Die Modedesigner Adrian Runhof und Johnny Talbot bereiten sich in München auf ihre Schau in New York vor. In Regensburg sitzt Max Schäffel derweil im Behandlungszimmer. Er ist 26 und drogenabhängig, sein linkes Auge dunkelblau und geschwollen. Der Arzt verabreicht ihm Ersatzstoff und ermahnt ihn, er solle doch nun bitte nicht auf Alkohol umsteigen.

Später wird sich Schäffel mit seinem Kumpel erst einmal ein paar Bier besorgen und sich zum Betteln in die Stadt setzen. Im oberpfälzischen Bärnau verrät um 10.39 Uhr ein Fischzüchter das Geheimnis seines Erfolgs: "Man muss sich in den Fisch ein bisschen reindenken können."

So geht das Stunde um Stunde. Kinder kommen zur Welt, die Metzgerin in Rehau belegt 60 Brote, Carmelo Giandinoto besorgt sich ein Notstromaggregat. In Selb regnet es. Allmählich entsteht aus all den Schnipseln tatsächlich ein Bild von Bayern, einem Land, in dem alles so wohlgeordnet und friedlich erscheint: wo die Menschen nicht nur viel arbeiten, sondern einander auch noch helfen, egal ob als Streetworker, Ärztin oder als Nachbarin, die sich um Flüchtlinge kümmert. Ein Land mit 13,5 Millionen Einwohnern, in dem der Sturz einer Radfahrerin in Coburg eine Polizeimeldung wert ist, muss ein ziemlich glückliches Land sein. Und wenn dann die Kamera mit dem Hubschrauber die Alpen entlangfliegt, könnte man meinen: 24 h Bayern hat sich die Staatsregierung selbst zusammengeschnitten. Hat sie aber nicht.

Am Dienstagmorgen um kurz vor sechs Uhr das Finale Grande: In der Nürnberger Kneipe Wacht am Rhein tanzen die Menschen zu Purple Rain von Prince. Draußen ist es längst hell. Es könne so noch bis Mittag gehen, sagt Bedienung Michaela Böhringer. Schade, denn die Doku endet hier, nicht aber die Wege der 80 Menschen, die in den vergangen 24 Stunden zu guten Bekannten wurden. Was wohl aus Carmelo Giandinoto geworden ist? Hier war auch der BR neugierig und hat ein Jahr später bei ihm nachgefragt: Seine Pizzeria ist immer noch ein Rohbau, er hat Schulden, aber er wird sie wieder eröffnen, das ist klar. Denn obwohl so vieles "Schaise" war, muss das Leben weitergehen.

© SZ vom 07.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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