Presseschau:"Deutschland fehlt der Blick nach Süden"

Lesezeit: 5 min

Nach dem Abschluss: Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, und Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates wirken einigermaßen zufrieden. (Foto: Stephanie Lecocq/dpa)

Die einen feiern Angela Merkels "visionäre Führung", die anderen vergleichen die Verhandlungen zum EU-Sondergipfel mit einer Operette. Ein Blick in die internationale Presse.

The Independent

Nach der Einigung beim EU-Sondergipfel am Dienstagmorgen lobt die Londoner Zeitung The Independent am Dienstag Angela Merkels Willen zur Zielstrebigkeit und schreibt über die EU: "Die Mitgliedsstaaten und deren Bürger mögen sie nicht immer lieben, aber anscheinend wollen sie auch nicht ohne ihre wirtschaftlichen Vorteile leben - die Bewegungsfreiheit und der Binnenmarkt, die so gut für Europas zumeist recht wohlhabende Bevölkerung funktionieren. Selbst die unzufriedensten Länder wollen die EU derzeit nicht verlassen, wie Großbritannien das getan hat. Wäre die EU wirklich am Auseinanderbrechen, hätte man eine Initiative wie den Corona-Wiederaufbaufonds gar nicht erst in Betracht gezogen. (...) In der Ära nach dem Brexit hat sich die alte Achse Paris-Berlin wieder Geltung verschafft, weil es einfach erforderlich war. Angela Merkel hat ihren Ruhestand hinausgeschoben, um dem Kontinent etwas von einer starken und visionären Führung zu geben, wie sie das in Deutschland während der Flüchtlingskrise tat. Ihr Dienstalter (Bundeskanzlerin seit 2005) und das wirtschaftliche Gewicht ihres Landes haben ihr das ermöglicht. Gemeinsam mit Emmanuel Macron sorgt sie dafür, dass die EU relevant bleibt und gibt ihr ein neues Gefühl der Zielstrebigkeit. Jedenfalls bis zur nächsten Krise."

Kurier

Die Verhandlungen über den EU-Wiederaufbaufonds und die Rolle Österreichs kommentiert der Wiener Kurier: "Was aber jetzt schon klar ist: Die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU haben sich verschoben. Eine geschlossene Gruppe kleiner Staaten hat den deutsch-französischen Motor gebremst. Die zuletzt ,bescheidenen fünf' (Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark und Finnland) haben ihre Macht entdeckt, wenn sie sich zusammentun. Seien es nun die Kleinen oder die Frugalen oder die Visegrad-4-Staaten - was das Innenleben der Europäischen Union angeht, weht also spätestens seit diesem historischen EU-Gipfel ein neuer Wind."

Brüssel
:EU-Sondergipfel endet nach 91 Stunden mit Einigung

Die 27 Mitgliedsstaaten der EU beschließen auf dem zweitlängsten Gipfel der EU-Geschichte ein Hunderte Milliarden Euro schweres Corona-Hilfspaket. Sie verständigen sich auch auf den Haushalt für die Zeit bis 2027.

Meldungen zum EU-Gipfel im Überblick

De Standaard

Zur Rolle des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte bei den Verhandlungen heißt es am Dienstag im belgischen De Standaard: "Im Kampf für eine ,sparsamere' EU hat er sich in den vergangenen vier Tagen und Nächten etwas zu oft und zu auffällig quergestellt. Das hat Mark Rutte zwar Bewunderung seitens des österreichischen Bundeskanzlers eingebracht - Sebastian Kurz war der wichtigste Bündnispartner bei seiner Übung in Sparsamkeit -, aber es wird doch noch eine Weile dauern, bis die Schwergewichte in Europa ihm wieder freundschaftlich auf die Schulter klopfen. (...) Das geforderte Vetorecht bekommt er jedoch nicht. Wenn sich ein Mitgliedsland schwer damit tut, Reformen durchzuführen, kann dies aber auf die Tagesordnung der nächsten EU-Ratssitzung gesetzt werden. Jedoch hatte (der EU-Ratschef) Charles Michel noch ein anderes Geschenk für die reichen Mitgliedsstaaten. Weil sie mehr in den EU-Mehrjahreshaushalt einzahlen als sie daraus bekommen, gibt es ein System von Beitragskürzungen. Diese werden nun erhöht. (...) Das kann Rutte sicher gut für seine eurokritische Heimatfront brauchen."

De Tijd

Die belgische Zeitung De Tijd vergleicht die Verhandlungen mit einer Operette: "In den vergangenen Tagen wurde im Brüsseler Ratsgebäude eine Art neuer Operette aufgeführt, mit dem niederländischen Premierminister Mark Rutte als Tenor. Der Wortführer der - inzwischen - fünf sparsamen oder ,geizigen' Länder hat sich mit seinen vielen Versuchen, die Gesamtsumme des Wiederaufbaufonds zu begrenzen und Direkttransfers oder Subventionen zu verbieten, ziemlich unbeliebt gemacht. (...) Mehrere Quellen betonen, dass der Gipfel kurz vor dem Platzen stand. Merkels Intervention verhinderte, dass es so weit kam. Im Laufe des Montags lag dann eine Vereinbarung auf dem Tisch, mit der alle Parteien, also auch der Süden und Macron, leben konnten. (...) Laut diesem Plan erhalten Rutte und Co. nun zusätzliche Belohnungen für ihren hartnäckigen Widerstand. Den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Österreich wird eine Erhöhung ihres bereits bestehenden Rabatts auf ihren Beitrag zum europäischen Haushalt zugestanden."

Neue Zürcher Zeitung

Zum harten Ringen um den Fonds analysiert die Neue Zürcher Zeitung die Rolle Großbritanniens: "Da sind sie wieder, die Briten. Sie sind zwar mittlerweile zu einem 17-Millionen-Volk geschrumpft, fahren auf der rechten Strassenseite und sprechen niederländisch. Aber die Rolle des Buhmanns, der sich am Brüsseler Verhandlungstisch unbeliebt macht, beherrschen sie gut. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist sich jedenfalls sicher: ,Die neuen Briten', das sind für ihn vor allem die Niederländer und ihr Verhandlungsführer Mark Rutte, der zugleich als Wortführer der sogenannten ,Sparsamen Vier' fungiert. (...) Wer im harten Ringen um Geld und Reformen den nahenden Untergang der EU sieht, macht es sich zu einfach. Besser stellt man es sich als lebenswichtige politische Auseinandersetzung vor, in der Interessen abgewogen und Beschlüsse korrigiert werden. Warum die Sorge vor Zuschüssen in dreistelliger Milliardenhöhe gleich die Existenz der EU infrage stellen soll, ist jedenfalls nicht ersichtlich. Haben die ,Sparsamen Vier' nicht einen Punkt, wenn sie sicherstellen wollen, dass mit Corona-Hilfen nicht bloss Haushaltslücken gestopft werden?"

El País

Deutschland muss nach der Westintegration nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ostpolitik jetzt eine Südpolitik zur Überwindung der Corona-Krise und der Rettung des europäischen Projekts entwickeln, schreibt die spanische Zeitung El País in einem Kommentar: "Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass es ohne ein (historisch) unkontrollierbares Deutschland keine europäische Integration geben würde. (...) Das supranationale Projekt war genau das, was Deutschland brauchte, um seine Schattenseiten zu unterdrücken und das Positive hervorzuheben: das Rechtssystem, die Einhaltung von Regeln, Sparsamkeit und Preisstabilität, industrielle und kommerzielle Kraft und die ehrliche Bereitschaft, sich mit seinen früheren Feinden zu versöhnen. (...) Deutschland wurde Ende des 19. Jahrhunderts geboren und neigte zweifellos zum preußischen Norden. Dann, nach anderthalb Jahrhunderten kriegerischer Desorientierung, blickte es nach Westen und versöhnte sich mit den Franzosen und Angelsachsen. Jahre später war seine Diplomatie nach Osten ausgerichtet, und infolge dieser Ostpolitik fiel die Mauer.

Aber Deutschland fehlt der Blick nach Süden. Diese Südpolitik ist von größter Bedeutung, denn ein Süden, der durch die Auswirkungen der Pandemie und durch das Gefühl der Verlassenheit zusammenbricht, wäre das Ende der europäischen Integration. Aber auch wir (der Süden) müssen uns gegenüber diesem Deutschland beweisen, das die Lehren aus der letzten Krise (2008) gezogen zu haben scheint und es in einer ehrenvollen Kraftanstrengung geschafft hat, sich von den "Sparsamen" (Vier) abzusetzen. Jetzt brauchen wir uns gegenseitig. Spanien trägt eine besondere Verantwortung. Vielleicht, weil es der einzige Mitgliedsstaat ist, der in den vergangenen drei Jahrhunderten keinen Krieg gegen die Deutschen geführt hat und in dem die Bewunderung eindeutig größer als die Abneigung ist. Vielleicht, weil wir mit den Deutschen einen instinktiven europäischen Geist teilen, der die Integration als Möglichkeit erkennt, die besten Eigenschaften unserer selbst zu finden."

Hospodářské noviny

Die liberale Wirtschaftszeitung Hospodářské noviny aus Tschechien schreibt am Dienstag zum EU-Gipfel in Brüssel und der Rolle Polens bei den Haushaltsverhandlungen: "Die unendlichen Verhandlungen in Brüssel (...) haben einen Nebeneffekt, der für Mitteleuropa entscheidend ist. Das, womit der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki aus Brüssel zurückkehrt, wird in großem Maße die Stimmung der polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gegenüber Europa bestimmen. Der PiS-Chef Jarosław Kaczyński will sich in den nächsten drei Jahren, in denen keine Wahlen auf nationaler Ebene stattfinden, einen Traum erfüllen und ein zentralisiertes politisches System nach dem Vorbild Ungarns schaffen. (...) In der erwarteten wirtschaftlichen Rezession braucht Warschau indes die europäischen Fonds, die eine bedeutende Quelle von Subventionen für die polnischen Landwirte sind. Denn diese bilden den Kern der PiS-Wähler. Der als Technokrat geltende Morawiecki war daher mit der Aufgabe nach Brüssel gereist, ein möglichst großes Geldpaket zurückzubringen."

© SZ/dpa - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

EU-Sondergipfel
:So werden die 1800 Milliarden verteilt

Die Staats- und Regierungschefs haben sich auf den EU-Haushalt bis 2027 und das Corona-Hilfspaket geeinigt. Für gebeutelte Staaten gibt es hohe Zuschüsse - gestrichen wird bei Zukunftsthemen. Ein Überblick.

Von Björn Finke und Matthias Kolb

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: