Ziemlich am Anfang dieses Filmessays lässt Dominik Graf seine Gesprächspartner über die Liebe sprechen, ohne die ja nichts Großes entstehen kann, auch und erst recht im Fernsehen nicht.
Der Regisseur Rainer Knepperges erzählt - voller Liebe - über das Fernsehen und wie er ihm früher begegnete, als er noch Kind war: "Ich habe möglichst viel geguckt. Alles. Am Nachmittag fing das Fernsehen an mit so etwas wie Mosaik, das war eine Sendung für Rentner. Aber egal. Ich hab's einfach geguckt." Der Filmkritiker Olaf Möller erzählt von seiner Liebe zu Graf Zahl, einer Figur aus der Sesamstraße, die von einer Krankheit befallen war, die mit der nüchternen Begrifflichkeit der Gegenwart als Arithmomanie zu bezeichnen wäre. Der Graf musste zwanghaft zählen, was ihm unter die Augen kam. Äpfel, Schäfchen, Kühe, alles.
50 Jahre Grimme-Preis sind der Anlass für dieses schöne Stück Fernsehen: Es werde Stadt ist einerseits eine Dokumentation über Marl, wo der wertvollste Fernsehpreis verliehen wird. Andererseits eine Philosophie über den Zustand des deutschen Fernsehens.
Beide - Stadt und Medium - sind wie Zwillinge verwandt. Marl war mal die Modellstadt einer freien, modernen Gesellschaft. Innovative Schule, offene Räume, viel Licht. Eine Stadt, in der die Volkshochschule nicht, wie anderswo, Volkshochschule heißt, sondern Insel. Und das Fernsehen war mal ein Fenster zu einer anderen Welt; eine bewusstseinserweiternde Institution.
Die Modellstadt hat nicht alle Versprechen einlösen können, genauso wenig wie das Fernsehen. Beide sind schwer in die Jahre gekommen. Und auch wie es mit dem Grimme-Preis weitergeht, ist nicht geklärt, der zuständige Mann und Meister im Marler Institut, Ulrich Spies, räumt gerade seinen Schreibtisch.
Liebe und Akribie
Viele Erinnerungen an ein anderes Gestern sind spürbar in der Dokumentation. Sind sie nur Sentimentalitäten? War das Fernsehen, wie ja gerne behauptet wird, früher besser? Und, wenn mit "besser" gemeint wäre: mutiger, klüger - stimmt das eigentlich? Und wenn ja: warum?
Dominik Graf ist berufen, sich all diese Fragen zu stellen, er hat zehn Grimme-Preise in Marl bekommen, er hat das Fernsehen bereichert und das Publikum beschenkt mit seinen Filmen, und gemeinsam mit seinem Co-Autor Martin Farkas legt er jetzt einen Film vor, dem man in jeder Ansicht die Liebe anmerkt, mit der er gemacht ist: Liebe und auch Akribie.
Schöne Idee zum Beispiel, am Anfang gleich mal Bettina Reitz, die Fernsehdirektorin vom BR, zu fragen, wo eigentlich der Fernseher stand, damals im Elternhaus. Graf hat nicht nur die Fernsehmächtigen dazu gebracht, über das Fernsehen nachzudenken - dabei tritt sehr viel unverhüllte Ratlosigkeit zutage.
Er hat auch die Tiefen der Archive ausgeleuchtet, besonders um das Jahr 1989 herum. Im 25. Jahr des Grimme-Preises erkennen die Filmemacher ein schicksalhaftes Datum. Die aufkommenden Privatsender bekamen in Gestalt von Stefan Aust (für Spiegel-TV) ihre allererste Trophäe überreicht, und auch wenn Aust damals versprach, unterlegt von klassisch Aust'schem Haifischlächeln, die etablierten Öffentlich-Rechtlichen nur ein bisschen ärgern zu wollen, ist bei denen eine Erschütterung spürbar, die bis heute nachzuwirken scheint.
Graf präsentiert einen Einspieler aus jener Zeit, zum Thema Utopie und Wirklichkeit des Fernsehauftrags spricht Günter Gaus, bekannt aus seiner legendären Interviewreihe Zur Person.
Gaus war einer der klügsten Menschen des alten Fernsehens, das sich zu ändern begann Anfang der Neunziger. Er sagt über das Fernsehen: "In diesem sinkenden Angebotsdurchschnitt ist für mich das Fernsehen heute geeignet, die Aufklärung zu beenden und durch Gefühle, die man erzeugt, zu ersetzen." Er sagt über das Fernsehen: "Für mich ist das, was ich für ein besonders günstiges Medium der Aufklärung gehalten habe, heute ein Medium der Bequemlichkeit." Er sagt über das Fernsehen: "Ein Medium der Selbsttäuschung für den Konsumenten, weil er denkt: er weiß alles, denn er hat's gesehen. Da sage ich noch mal: Augenschein ist keine Erkenntnis, sondern nur Augenschein."
Die Dokumentation von Graf und Farkas ist tatsächlich ein Kunstwerk, sie kombiniert solche hellsichtigen - und gewissermaßen deprimierenden - Analysen mit verspielten Reminiszenzen. Ein Bilderteppich, gewebt aus Reflexion und Emotion. Erinnert wird an Werte, die verloren gegangen sind, aber schön ist es auch, noch mal Bilder zu sehen, die es nicht mehr gibt, und wenn die Bilder nur ein Rauschen waren, das Rauschen nach dem Sendeschluss.
Oder, die Einblendungen, die zu sehen waren, wenn es ein technisches Problem gab, eine Verzögerung. Der Fernsehfreak Knepperges - dessen Erinnerung sehr belastbar ist - entsinnt sich der Programmunterbrechungen seiner Kindheit samt Einblendungen auf dem Schirm: "Da saß manchmal ein Vogel auf einem Draht. Für Minuten."
Das aktuelle Fernsehen wird in dem Essay nicht platt verurteilt, Fragen können tiefer gehen als Behauptungen. Graf erlaubt sich zu fragen, warum zum Beispiel in diesem Jahr der grandiose Polizeiruf "Der Tod macht Engel aus uns allen" keinen Grimme-Preis bekommen hat, genauso wenig übrigens wie früher Der Kommissar mit Erik Ode. Wenigstens vier legendäre Folgen des Tschechen Zbynĕk Brynych hätten die Auszeichnung verdient. Wegen ihrer irren Kamerafahrten, ihrer Zooms; wegen ihres Mutes, den guten alten deutschen Kommissar Keller tanzend zu zeigen; fremd und neu.
Es geht um Freiheit
Wenn das Fernsehen mutig und frei ist, dann ist es gut. Keine neue Erkenntnis, aber sicher eine, die man nicht oft genug wiederholen kann. Ein Schatz aus dem Archiv: Der Dokumentarfilmer Roman Brodmann spricht über Polizeistaatsbesuch, seinen legendären Film über die Schah-Visite in Deutschland 1967. Der Intendanz des damaligen Süddeutschen Rundfunks SDR war das zwar politisch zu links, der Film wurde aber trotzdem durchgewunken, weil er gut gemacht und wasserdicht war.
Am Ende formuliert Dominik Graf eine Art Plädoyer: "Es geht beim Fernsehen um Freiheit, um Offenheit, um das Niederringen von Denkzäunen, um die Vernichtung von Bürokratie. Es geht um die Vermischung von Avantgarde und Popularität, es geht schlicht und einfach um die Verbesserung der Welt. Haltet euch ran, Freunde, wir waren mit allem schon mal wesentlich weiter."
Und weil das Fernsehen nur überleben kann, wenn es die Welten nicht nur verbessert, sondern sie auch miteinander in Berührung bringt, Massen und Kultur, Emotion und Reflexion, Aufklärung und Gefühl, legt Graf eine alles verbindende Sequenz aus einem Film von Horst Königstein unter diese Forderung. Schätzungweise frühe Siebziger: Rod Stewart, noch spindeldürr und struppig, singt live "Gasoline Alley" in einem Hamburger Hinterhof, eine Hausfrau in Kittelschürze blickt von einem Balkon ratlos zu ihm runter. Nicht nur wegen dieser Perle - ein sehenswerter, kluger Film.
Es werde Stadt , WDR, 23.15 Uhr.