Claas Relotius hat im Alter von 33 Jahren schon mehr erreicht als viele Journalisten in ihrer gesamten Karriere. Einen Reporterjob beim Spiegel , Journalistenpreise und Geschichten, die so gut sind, so besonders, dass man glatt hätte neidisch werden können, wenn dieses Ausnahmetalent nicht so freundlich und bescheiden aufgetreten wäre. Relotius machte es Kollegen schwer, ihn nicht zu mögen. Seit Mittwoch ist klar: Viele seiner Geschichten waren zu schön, um wahr zu sein. Und Claas Relotius steht vor den Trümmern seiner beruflichen Existenz.
Mittags informierten Chefredaktion und Geschäftsführung die Mitarbeiter im Spiegel-Gebäude darüber, dass Claas Relotius in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert und vieles frei erfunden hat. Der Reporter habe die Fälschungen zugegeben und das Haus verlassen.
Bislang wurde keine Strafanzeige gestellt, die Spiegel-Führung wollte das aber auch nicht endgültig ausschließen, eine Zivilklage hingegen schon.
SZ Magazin In eigener Sache:SZ-Magazin vom Fall Relotius betroffen
Auch das "SZ-Magazin" hat im Jahr 2015 zwei manipulierte Interviews von Claas Relotius veröffentlicht, der umfangreiche Fälschungen im "Spiegel" eingestanden hat.
Bevor Claas Relotius vor eineinhalb Jahren Redakteur im Spiegel-Gesellschaftsressort wurde, war er freier Journalist, sodass auch weitere Medien betroffen sein könnten. Relotius schrieb seit 2011 knapp 60 Texte für den Spiegel und Spiegel Online und veröffentlichte 2015 auch zwei Interviews im Magazin der Süddeutschen Zeitung. "Wir prüfen den Wahrheitsgehalt in beiden Fällen derzeit", sagt Chefredakteur Timm Klotzek. "Die Texte werden ins Englische übersetzt und den damaligen Interviewpartnern zur Überprüfung vorgelegt."
Erst am 3. Dezember war Relotius für eine Spiegel-Geschichte zum vierten Mal mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet worden: "Ein Kinderspiel" erzählt von einem syrischen Jungen, der im Glauben lebt, durch einen Streich den Bürgerkrieg im Land mitausgelöst zu haben. Die Jury, besetzt mit wichtigen Journalisten des Landes, würdigte damit einen Text "von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert". Ein Halbsatz, der nun in sich zusammengefallen ist. Die Jury kündigte an zu beraten, ob Relotius "seine vier Reporterpreise aberkannt werden".
Das ganze Ausmaß der Manipulationen ist bislang nicht bekannt, und Relotius besteht darauf, zwischen den Fälschungen auch einwandfreie Geschichten veröffentlicht zu haben. Eine Darstellung, der man kritisch gegenüberstehen müsse, sagte der designierte Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann. Es werde Monate dauern, um das volle Ausmaß zu überblicken.
Der Spiegel ging am Mittwoch in die Offensive, indem er parallel zur Mitarbeiterversammlung eine umfangreiche Rekonstruktion von Ullrich Fichtner, designiertes Mitglied der Chefredaktion und selbst vielbepreister Reporter, sowie "die Antworten auf die wichtigsten Fragen" ins Netz stellte. Demnach ist es Relotius' Kollegen Juan Moreno zu verdanken, dass der systematische Betrug aufflog. Bei der gemeinsamen Recherche zu "Jaegers Grenze", einer Reportage über eine US-Bürgerwehr an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, erschienen im November, wurde Moreno misstrauisch und schilderte den verantwortlichen Redakteuren seine Bedenken. "Anfangs rannte er gegen Wände wie ein Whistleblower, dem nicht geglaubt wird", schreibt der Spiegel selbstkritisch.
Ende vergangener Woche gab Relotius schließlich zu, ganze Passagen frei erfunden zu haben, nicht nur in "Jaegers Grenze". Seinen Angaben zufolge sind mindestens 14 Texte betroffen und zumindest in Teilen gefälscht. Relotius habe "beispielsweise viele der Protagonisten nie getroffen oder gesprochen, von denen er erzählt und die er zitiert", schreibt der Spiegel.
Es sei ihm nicht um das nächste große Ding gegangen, sagt er. Es ging um die Angst vorm Scheitern
Während seines Geständnisses vergangenen Donnerstag sagte Relotius laut Spiegel wörtlich: "Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern." Und "mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde immer größer, je erfolgreicher ich wurde". Relotius erklärte im Gespräch mit seinen Vorgesetzten offenbar, er sei psychisch krank. Kontrollmechanismen, die er bei anderen Menschen vermute, würden bei ihm nicht funktionieren.
Diese Aussage erklärt den Zwiespalt der Gefühle in der Redaktion: Einerseits fühlt man sich getäuscht, erschüttert, andererseits empfindet man Mitgefühl mit dem jungen Kollegen. Dirk Kurbjuweit, Mitglied der Spiegel-Chefredaktion, sagte, er stelle sich die Frage, in welchem "inneren Terror" Relotius gelebt haben müsse: All die Ehrungen entgegenzunehmen, die Lobreden zu hören und gleichzeitig zu wissen, was er getan habe. "Da sehe ich schon einen Menschen in einem absolut bedauernswerten Zustand", sagte Kurbjuweit.
Eine zentrale Frage ist, wie vorsätzliche Täuschungsmanöver dieser Dimension ausgerechnet beim Spiegel, der sich einer intensiven Faktenprüfung durch seine Dokumentationsabteilung rühmt, möglich waren. "Dass es Relotius gelingen konnte, jahrelang durch die Maschen der Qualitätssicherung zu schlüpfen, die der Spiegel in Jahrzehnten geknüpft hat, tut besonders weh, und es stellt Fragen an die interne Organisation, die unverzüglich anzugehen sind", schreibt Fichtner. "Nicht verhindert zu haben, dass die seit 1949 im Spiegel-Statut verbrieften Werte des Hauses in derart flagranter Weise verletzt werden, verursacht einen stechenden Schmerz, und das ist nicht nur hingesagt." Die Chefs kündigten an, eine Kommission aus erfahrenen internen und externen Personen unter Leitung des im Januar zum Spiegel wechselnden neuen Nachrichtenchefs Stefan Weigel einzusetzen, die den Hinweisen auf Fälschungen nachgehen soll. Die Kommission solle auch alles Weitere öffentlich aufarbeiten und die Sicherheitsmechanismen im Haus verbessern.
Wenn das volle Ausmaß der Fälschungen klar sei, so der künftige Chefredakteur Klusmann, seien auch personelle Konsequenzen möglich. Denkbar sei auch, dass künftig jeder Reporter von einem Fotografen begleitet werden müsse, um Manipulationen zu erschweren. Absolute Sicherheit aber könne es nie geben: "Am Ende muss eine Redaktion den eigenen Leuten natürlich ein Urvertrauen entgegenbringen."
Der Fall weckt Erinnerungen an den Skandal um den Schweizer Journalisten Tom Kummer, der jahrelang neu zusammengesetzte oder gleich komplett erfundene Interviews mit Hollywoodstars in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, auch im SZ-Magazin, dessen damaliges Chefredakteurs-Duo nach der Enthüllung durch den Focus im Jahr 2000 entlassen wurde. Damals hatte der Begriff "Borderline-Journalismus" Konjunktur, mit dem versucht wurde, Kummers Fälschungen zur Kunstform umzudeuten. Was vor 18 Jahren noch leidlich gelang, funktioniert heute angesichts eines von "Fake News"-Vorwürfen und Auflagenrückgängen gekennzeichneten Gesellschafts- und Branchenklimas überhaupt nicht mehr. Der Journalismus steht unter immensem Druck, seine Glaubwürdigkeit zu beweisen und zu verteidigen, was die schnelle, entschiedene und schonungslose Aufarbeitung der Spiegel-Redaktion erklärt.