Dieses Mal beginnt die Debatte bei Anne Will erst elf Minuten nach dem Start der Sendung. Vorher ist Isabel Schayani zugeschaltet, Journalistin des WDR, die mit einer Familie aus Afghanistan auf einer Straße auf der griechischen Insel Lesbos sitzt. Wer diese elf Minuten gesehen hat, der wird sie so schnell nicht vergessen.
Schayani schildert live die Zustände auf der Insel, wo vor vier Tagen das Flüchtlingslager Moria abgebrannt ist. Wer das Lager in Brand gesteckt hat, ist noch immer nicht bekannt. Es könnten Flüchtlinge selbst gewesen sein, die Situation in dem überfüllten Camp war durch den Corona-Lockdown immer schlimmer geworden. 13 000 Menschen hatten im Camp gewohnt, das nur für 3000 Personen ausgelegt ist. Dann kam das Feuer und nun leben die Menschen auf der Straße. Schayani und die afghanische Familie befinden sich auf einem Parkplatz eines (geschlossenen) Supermarkts. Und kochen offenbar drei Eier, die ein Kind ergattert hatte.
Was da in die deutschen Wohnzimmer flimmert, kommt also direkt aus dem Morast der Welt. Es ist im Brennglas das Elend der Flüchtlingsmisere. Auf der einen Seite die Menschen, die gerade im Nahen und Mittleren Osten oder aus Teilen Afrikas aus ihren Ländern weg wollen, koste es, was es wolle. Auf der anderen Seite sind viele Europäer von der sehr hohen Zuwanderung 2015 und all ihren politischen Folgen so angefasst, dass sie nicht mehr viele aufnehmen wollen. Lesbos ist eine griechische Insel quasi in Sichtweite zum türkischen Festland und damit erster Anlaufpunkt der Geflüchteten, die in die Europäische Union wollen. Die meisten werden dort zu Gestrandeten, weil weder die Griechen noch andere Europäer sie weiterziehen lassen.
Und nun der Brand. Die Obdachlosigkeit. Die Angst.
"Was ist, wenn jemand auch das neue Lager anzündet?"
Schayani berichtet, dass die Griechen auf einem Militärgelände auf Lesbos ein neues Lager aufbauen, die Flüchtlinge zweifeln, ob es dort besser ist als auf der Straße. Schayani spricht Persisch, weil ihr Vater aus Iran kommt, ihre Mutter ist Deutsche. Nach ihren Informationen wabern Gerüchte unter den Migranten, dass auch im neuen Lager ein harter Corona-Lockdown drohe, der sich anfühle wie ein Gefängnisaufenthalt. Ein Bruder der Familie sei vorausgegangen, um zu prüfen, ob es dort tatsächlich so schlimm ist, wie befürchtet. Die afghanische Mutter fragt ins Mikrofon: "Was ist, wenn jemand auch das neue Lager anzündet?"
Sie wippt vor und zurück, wirkt apathisch, geschwächt. Ihr rotes Kopftuch ist ausgebleicht, ihre Stimme dünn. Schayani spricht vom "Schock des Feuers", der Todesangst. Ein Mädchen sitzt neben ihr, die Reporterin kennt sie von mehreren Lager-Besuchen seit Oktober. "Es war nicht mehr das Kind, was ich gesehen hatte, als wir im Februar hier waren. Und im Februar war's schon übel." Sie stockt bei diesen Worten zweimal. Es wirkt, als müsste sie gleich losweinen. Schayani kann kaum verbergen, wie emotional mitgenommen sie ist.
Puristen unter den Journalisten könnten ihr das als unprofessionell vorwerfen. Doch die spürbare Gefühlslage, die Betroffenheit Schayanis verleiht dem Interview eine seltene Intensität. Es ist kaum möglich, sich dem zu entziehen.
Sie erzählt von Kämpfen bei der Wasser- und Essensausgabe. Sie berichtet, dass die Menschen hungern. Sie erzählt von der Situation der Griechen, die eigentlich so nett und hilfsbereit, aber überfordert seien. "Es ist entsetzlich, dass sie dieses Elend ständig vor der eigenen Haustür haben", sagt Schayani. Sie versucht, das Ganze politisch einzuordnen, glaubt, dass die griechische Regierung eine Politik der Abschreckung betreibe, damit nicht noch mehr Leute kommen. Flüchtlinge würden sie ständig fragen, ob Deutschland denn Migranten aufnehmen wolle. Sie habe ihnen gesagt, es sei ihre Entscheidung gewesen zu kommen, Griechenland und Europa hätten das Recht zu entscheiden, ob sie bleiben dürften oder nicht. Die Migranten hätten daraufhin gesagt: "Wir verstehen das, aber wieso behandelt ihr uns wie Tiere?" An dieser Stelle sei sie dann am Ende mit ihrem Latein gewesen.
Danach beginnt die eigentliche "Anne Will"-Sendung, das Thema heißt: "Europas gescheiterte Migrationspolitik - welche Rolle soll Deutschland übernehmen?" Von der Wirklichkeit auf Lesbos geht es direkt in die hiesige Debatte: Was tun? Die Emotionen kühlen mächtig ab.
Baerbock hält sich mit Forderungen zur Flüchtlingsaufnahme zurück
Annalena Baerbock wirkt zwar ehrlich betroffen, bietet aber gleich eine Überraschung: Selbst auf dreifache Nachfrage von Anne Will will die Vorsitzende der Grünen nicht fordern, dass Deutschland alle 13 000 Flüchtlinge aus Lesbos aufnehmen soll. Vermutlich weiß auch sie, dass die griechische Regierung das gar nicht will, weil sie Angst hat, dass dann alle Lager brennen könnten. Stattdessen fordert Baerbock Nothilfe vor Ort und geordnete Strukturen sowohl in den griechischen Lagern wie in der EU-Flüchtlingspolitik.
Damit liegt sie quasi auf Linie ihres Gegenübers Manfred Weber von der CSU. Der sagt quasi dasselbe wie Baerbock, garniert mit ein paar Parolen, die man in den vergangenen Tagen oft gehört hat: Deutschland dürfe keinen Alleingang machen, es brauche Härte an der Außengrenze, man müsse stattdessen die Leute direkt aus Libanon oder aus Jordanien holen. Und: "Es wollen alle nach Deutschland, doch das geht nicht. Die Fehler von 2015 dürfen wir nicht wiederholen."
Weber preist die neue konservative griechische Regierung dafür, in den vergangenen Monaten Tausende Migranten aufs Festland gebracht zu haben. Danach erklärt Marie von Manteuffel von "Ärzte ohne Grenzen": "Auf dem Festland ist es exakt so schlimm wie auf den Inseln." Die Menschen lebten in der Obdachlosigkeit oder in alten Fußballstadien. Die Regierung sei nicht in der Lage und nicht willens, sich um diese Menschen zu kümmern. Jetzt bekämen viele einen Flüchtlingsstatus, mit dem Kalkül, dass sie das Land verlassen. Denn gleichzeitig verweigere man ihnen eine Sozialversicherungsnummer, Unterkunft, Essen, medizinische Versorgung. Manteuffel spricht vom "Panorama des Schreckens, was dort herrscht".
Was hauptsächlich von der Sendung bleibt, ist aber die Schalte Schayanis aus Lesbos. Reaktionen darauf sind kurz danach in den sozialen Netzwerken zu lesen. Die einen können das Elend der Menschen nicht ertragen und fordern dazu auf, sie sofort nach Deutschland zu holen. Andere halten alles für Manipulation und lehnen jede Hilfe ab. Da geht es wie immer laut und heftig zu. Doch es dürften auch viele Zuschauer leise und mit einem unguten Gefühl ins Bett gegangen sein. Ratlos zwischen den Argumenten der Politiker und Parteien. Und doch mit dem Wunsch: Möge bitteschön irgendjemand diesen Menschen dort helfen.