Zwei Jahre lang haben Amazon-Mitarbeiter den Regisseur Woody Allen quasi angefleht, eine Serie für den hauseigenen Streamingdienst zu drehen. Eine exklusive Show vom dreifachen Oscarpreisträger, das sollte im erbitterten Konkurrenzkampf der Online-Serienanbieter der große Coup werden.
Das Problem: Der 80-jährige Kino-Veteran hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er das Fernsehen verachtet, und der Aufstieg der Streamingdienste fand auch unterhalb seines Interessenradars statt. Also mussten die Amazon-Studios, die für die Eigenproduktionen des Versandunternehmens verantwortlich sind, ihm ein Angebot machen, das kein Filmemacher ablehnen kann. Sie versprachen laut Allen: "Dreh, was du willst, wann du willst und mit wem du willst. Du brauchst uns vorher kein Drehbuch zu zeigen, wir geben dir das Geld, und du rufst an, wenn du fertig bist."
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Eine solche Carte blanche ist auch für einen Starregisseur einmalig, weshalb Allen sich an seine alte deutsche Olympia-Schreibmaschine setzte, an der er seit seinem 16. Lebensjahr alle Filmskripte geschrieben hat. Nur tippte er nach mehr als sechs Jahrzehnten und fast 50 Kinofilmen nun erstmals eine Serie in die schweren, alten Tasten. Das Ergebnis ist die Sitcom Crisis in Six Scenes, deren sechs Episoden von jeweils gut zwanzig Minuten Länge nun bei Amazon Video abrufbar sind.
Die Sketch-Portionierung klappt besser als in manchem Filme
Der alte Schelm Woody Allen unterwandert darin sämtliche Erfolgsrezepte des aktuellen Serienhypes mit einem wirklich bewundernswerten Stoizismus, weshalb sich die Verantwortlichen bei Amazon schon mal auf einen veritablen Shitstorm gefasst machen können. Denn mit dem dramaturgischen Überdruck von Shows wie Game of Thrones oder Daredevil, die ein extremes Erzähltempo zum Erfolgsprinzip erhoben haben, kann diese Serie ungefähr so gut mithalten wie Allens alte Schreibmaschine mit einem modernen Laptop. Die Handlung aller sechs Folgen von Crisis in Six Scenes würde den meisten Serienmachern vermutlich nicht mal für fünf Sendeminuten reichen, aber gerade diese Entschleunigung macht die Comedy-Show zu einem nahezu buddhistischen Seherlebnis im hypernervösen Serienbetrieb der vergangenen Jahre.
Allen selbst spielt den neurotischen Schriftsteller Sidney J. Munsinger, der sich sechs Folgen lang darüber aufregt, dass seine Gattin, eine Paartherapeutin (Elaine May), ein junges Hippie-Mädchen aufnimmt, das von der Polizei gesucht wird. Die Geschichte ist in den frühen Sechzigerjahren angesiedelt, der Vietnamkrieg tobt, die Studenten beginnen zu revoltieren. Aber der Schauplatz ist ein kleiner Vorort von New York, mit weißen Häusern und buntem Herbstlaub im Garten, und hier herrscht noch ein suburbanes Nachkriegsidyll, das keine Systemkritik gebrauchen kann. Diesen Kosmos verteidigt Allen als Karikatur aufs konservative Amerika mit der Vehemenz eines Mannes, der sein Steak essen möchte, ohne wissen zu müssen, wo es herkommt.
Seine Revoluzzer-Gegnerin wird von der Sängerin und Schauspielerin Miley Cyrus gespielt, die hier nach ihren braven Anfängen in der Disney-Show Hannah Montana das erste Mal wieder in einer Serie zu sehen ist. Sie traktiert den alten Grantler mit der Bürgerrechtsbewegung und ihrem Traum vom kommunistischen Sehnsuchtsort Kuba. Währenddessen frisst sie ihm den Kühlschrank leer und nistet sich im Gästezimmer ein, weil die Gattin des unfreiwilligen Gastgebers ihrer Familie einen Gefallen schuldet. Die Serie spielt fast ausschließlich im Haus des Ehepaars, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer. Eine klassische Sitcom-Kulisse ohne Spezialeffekte und exotische Landschaften, nur auf eingespielte Publikumslacher vom Band verzichtet Allen glücklicherweise.
Als Kameramann hat er den Dänen Eigil Bryld engagiert, der schon diverse Folgen House of Cards gefilmt hat und somit viel Serienerfahrung mitbringt. Aber analog zu seinen Kinofilmen verzichtet Allen auch in seiner Amazon-Auftragsarbeit auf visuelle Spielereien. Fast alle Szenen sind so geschrieben, dass er sie problemlos in einzelnen, langen Einstellungen drehen kann, ohne komplizierte Kamerafahrten oder hektische Schnitte. Für seinen Dialogwitz ist diese ruhige Inszenierungsweise das probate Mittel, und Crisis in Six Scenes bietet auch traditionellen Allen-Humor: Er sitzt mit einem hypochondrischen Anfall beim Arzt und befürchtet, dass er Malaria hat, weil sein Daumen wehtut, während das Hippie-Mädchen daheim die Lesegruppe seiner Frau mit Mao-Pamphleten radikalisiert, woraufhin die alten Damen sich zu einer Nacktdemo entschließen.
Die Sketch-Portionierung im Serienformat funktioniert sogar besser als in manchen von Woody Allens letzten Kinofilmen, die wie Flickenteppiche aus einzelnen Episoden zusammengesetzt wirkten. To Rome With Love zum Beispiel oder Ich sehe den Mann deiner Träume. Trotzdem könnte diese Serie ein mustergültiges Beispiel für die Experimentierfreude der jungen Streamingdienste sein, auf die man wohl schon bald sehnsuchtsvoll und nostalgisch zurückblicken wird. Noch suchen sich Amazon, Netflix und Hulu Projekte aus, die Prestige versprechen, obwohl sie am Massenpublikum vorbeizielen - und zwar um ihr Revier auf einem neuen Markt möglichst eindrucksvoll zu markieren.
Sollten aber Produktionen wie Crisis in Six Scenes dauerhaft nur ein Nischenpublikum befriedigen - die treuen Woody-Allen-Fans überschneiden sich nicht unbedingt mit dem durchschnittlichen Konsumenten von Online-Serien -, dann könnte damit bald Schluss sein. Dann müssen sich sogar Regisseure wie Woody Allen wieder den puren Zuschauerzahlen beugen, also jenen formalen Zwängen, vor denen so viele Filmemacher vom Kino und vom klassischen Fernsehen zu den neuen Anbietern geflohen sind. Bis es aber so weit ist, kann man den neurotischen Wahnsinn, den Allen hier unter Missachtung sämtlicher Mainstream-Mechanismen und Marktforschungstrends produziert hat, als den angenehmsten Anachronismus des Jahres genießen.
Crisis in Six Scenes , abrufbar bei Amazon Video.