Kolumne: Vor Gericht:Geschlossene Gesellschaft

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Bitte draußen bleiben: Eine Justizbeamtin schließt eine Tür zu einem Gerichtssaal (Symbolbild). (Foto: Friso Gentsch/dpa)

Immer häufiger wird unser Kolumnist vor die Tür geschickt. Dabei sollen Prozesse eigentlich öffentlich sein.

Von Ronen Steinke

Ich fand, der Fall klang rätselhaft. In Berlin saß eine Ukrainerin in Untersuchungshaft, und zwar schon sechs Monate lang. Dabei lautete der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegen Anastasia R., 37 Jahre alt, nur: Sie habe sich eines Nachts, betrunken, krakeelend, als ein Polizist sie wegen eines Platzverweises abführte, "gegen die Laufrichtung gestemmt". Es ist das, was in der Justiz "Zappelwiderstand" genannt wird. Eine Bagatelltat, die denkbar mildeste Form eines Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Und dafür sechs Monate U-Haft?

Vor Gericht trug die Ukrainerin einen Jogginganzug, neben ihr saßen ein Dolmetscher und ihr Strafverteidiger, gegenüber saß die Staatsanwältin. Alle diskutierten sie angeregt miteinander, als ich zur Tür hereinkam, um mir das Verfahren - als einziger Zuschauer - anzusehen. Aber mehr bekam ich nicht zu sehen. Alle im Saal verstummten. Die Richterin forderte mich auf, den Saal gleich wieder zu verlassen. "Hauptverhandlungen sind öffentlich", sagte sie. Aber dies hier sei nun keine Hauptverhandlung. Sondern ein "Verständigungsgespräch".

So geschieht es öfters. Gerichtsprozesse sind öffentlich. Das ist ein eherner Grundsatz des Strafprozessrechts. Das soll die Betroffenen vor Willkür schützen. Es soll die öffentliche Kontrolle sicherstellen. Es kommt heute dennoch nicht selten vor, dass die Prozessbeteiligten in einen "informellen" Modus wechseln, dann können sie ganz vertraulich miteinander sprechen, ohne dass die Öffentlichkeit zusieht. Das können Richterinnen und Richter recht einfach entscheiden. "Verteidigergespräch" ist ein Wort dafür. "Verständigungsgespräch" ein anderes. Man muss dazu - wie der Fall Anastasia R. zeigt - nicht einmal unbedingt in ein Hinterzimmer wechseln.

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Nicht nur Verhandlungen gegen Jugendliche finden deshalb hinter verschlossenen Türen statt, so wie es vorgeschrieben ist, oder auch die quälenden Aussagen von Vergewaltigungsopfern, die - zu Recht - vor voyeuristischen Blicken zu schützen sind. Auch bei ganz regulären Prozessen gegen Erwachsene ziehen sich die Prozessbeteiligten zunehmend in einen solchen Privatmodus zurück. Kürzlich saß ich in einem Betrugsprozess, der Angeklagte war Sozialhilfeempfänger, ein trauriger, stiller Mensch. Der Staatsanwalt und der Verteidiger stritten laut. Dann ergriff die Richterin das Wort - und schickte plötzlich sämtliche Zuschauer vor die Tür.

Durch die dünnen Wände konnte man hören, wie die Herren minutenlang weiterstritten. Als wir Zuschauer wieder hineingebeten wurden, war alles vorbei. Wie, weshalb und warum sich die Juristen auf eine bestimmte Entscheidung geeinigt hatten und wie fair es dabei zugegangen ist, davon konnten wir uns kein eigenes Bild machen, ebenso wenig wie im Fall der Ukrainerin Anastasia R. Vertrauen ist gut, Kontrolle nicht möglich.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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