Historie:Wo die bösen Buben wohnen

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Eine vergnügliche Reise zu Max und Moritz und dem versoffenen Unglücksraben Hans Huckebein: Wie sich Wiedensahl, das Heimatdorf von Wilhelm Busch, an seinen berühmten Dichter erinnert.

Von Cord Aschenbrenner

Da steht es also, das Denkmal. Ein Bronzerelief mit der Gestalt des größten Sohnes von Wiedensahl, im Jahr 1913 nach einer Geldsammlung im ganzen Kaiserreich solide gefasst in rheinischem Muschelkalk. Zweifellos gehört es hierher, in die Dorfmitte, in die Nähe von Pfarrhaus und Kirche. Notwendig ist es eigentlich nicht, denn in dem Tausend-Seelen-Dorf kann man kaum einen Schritt tun, ohne sofort an Wilhelm Busch erinnert zu werden: neben dem alten Pfarrhaus eine Ansammlung hölzerner Stelen mit Max und Moritz an der Spitze. Nicht weit davon das Café des Dorfes, der Busch-Keller, im Besitz der Ururgroßnichte des Dichters. An der Hauptstraße blecherne Silhouetten des versoffenen Unglücksraben Hans Huckebein, von Schneider Böck und anderen bekannten Gestalten aus Buschs Universum, nicht zu vergessen der Grabstein mit dem eingemeißelten Familiennamen Bolte auf dem Friedhof. Und selbstverständlich gibt es eine Wilhelm-Busch-Straße.

Die Menschen, die in Wiedensahl leben, dürften also ohnehin jeden Tag an den alten Herrn denken, dessen zum Teil hier entstandenes und überwiegend komisch-groteskes Werk das Dorf knapp 60 Kilometer westlich von Hannover im Schaumburger Land berühmt gemacht hat. Und dem die Wiedensahler, bevor das Coronavirus seine humorlose Herrschaft antrat, jedes Jahr ein paar Tausend Besucher verdankten. Irgendwann werden wieder Gäste kommen - obwohl Busch lange tot ist, seit 1908; obwohl zwei Weltkriege, die deutsche Teilung, die sich anbahnende Klimakatastrophe und eine Pandemie und der russische Angriff auf die Ukraine zwischen damals und heute liegen, nicht zu vergessen die Erfindung des Fernsehens, des Smartphones und noch so einiges.

Und obwohl Knaben nicht mehr mit der Rute gezüchtigt werden und Mädchen nicht mehr knicksen, Frauen freiwillig ihrem Platz am Herd zugunsten des Schreibtischs entsagen und Männer weder Hut noch Frack tragen - der Dichter und Zeichner Busch bleibt. Dabei sind nicht einmal Spurenelemente dessen, was heute als politisch, pädagogisch oder moralisch angemessen gilt, in seinem Werk zu finden, und manch Wohlmeinende (oder Übelwollende) haben ihm schon unangemessene Häme, wenn nicht gleich Grausamkeit vorgeworfen.

"Drei Wochen war der Frosch so krank!"

Busch, geboren tief im 19. Jahrhundert und in allen Schichten gelesen, war höchst populär auch im 20. Jahrhundert und ist heute noch Namenspatron nicht weniger Schulen überall in Deutschland. Vielen Schülern, ob Mädchen oder Jungen, war er vermutlich immer schon lieber, weil deutlich lustiger, als Goethe, in dessen Todesjahr 1832 Busch in Wiedensahl auf die Welt kam.

Das Lustige sieht man zwar nicht so, wenn man vor seinem insgesamt sehr würdigen Denkmal an der Hauptstraße steht und hochschaut zu dem Bronzerelief. Als Vorlage diente das berühmte Porträt von Franz Lenbach, der 1877, damals noch nicht geadelter Großmaler, seinen Freund Wilhelm in München mit einer Zigarre in der Hand als selbstbewussten Herrn im besten Alter malte. Aber stände hier jetzt eine Traube enthusiasmierter Busch-Touristen wie zu Vor-Corona-Zeiten, und ein Werkkundiger zitierte den wie immer bei Busch leicht abgründigen Vers: "Drei Wochen war der Frosch so krank! Jetzt raucht er wieder. Gott sei Dank!" - es gäbe gewiss Gelächter.

Löst man den Blick von Busch und lässt ihn höher wandern, so sieht man über einem wohl die Ewigkeit symbolisierenden Eierfries den Flöte spielenden Hirtengott Pan und die Eule der Athene, die steinern oben auf dem Denkmal hocken. Wie sie sich da aneinanderschmiegen, die die Weisheit verkörpernde Eule und der fröhliche Gott des Waldes, passen sie wunderbar zu Busch und seinem Werk und nehmen ihm etwas von seiner bronzenen Gravitas.

Überraschend ernst: das Busch-Denkmal in Wiedensahl. (Foto: Kurt Cholewa)

Neben dem Denkmal in der Sonne steht Kurt Cholewa, ein drahtiger Mittsechziger, der als ehrenamtlicher Dorfführer den Blick von Fremden auch auf das nicht so Offensichtliche lenken kann. Am Denkmal schimmert es jetzt sogar im Sonnenschein, der Besucher wüsste jedoch nicht, wieso der poliert wirkende Daumen an Buschs Bronzehand bemerkenswert sein soll. Aber der pensionierte Ingenieur und ehemalige Ratsherr Cholewa kann erklären, auf welch keinesfalls denkmalsgerechte Weise dieser Glanz zustande kam.

Der Glanz eines Daumens

Vor bald sechzig Jahren hatten der Schüler Kurt und seine Klassenkameraden sich überlegt, den großen Mann auf seinem Sockel auf seine Alltagstauglichkeit zu prüfen, gewissermaßen. Die Jungen stellten sich mit Abstand vor den Muschelkalkklotz, der erste nahm Anlauf, sprang mit einem großen Satz über ein Beet mit Stiefmütterchen hinweg auf die leichte Schräge des Fundaments, reckte sich und bekam Buschs Bronzedaumen zu fassen - oder auch nicht. Schon kam der Nächste. Der Glanz des Daumens hält bis heute.

Höchst passend ist hier der legendäre erste Vers der ebenso legendären "Bubengeschichte in sieben Streichen", die von Max und Moritz handelt:

"Ach, was muss man oft von bösen

Kindern hören oder lesen!!"

Und weiter:

"Die, anstatt durch weise Lehren

Sich zum Guten zu bekehren,

Oftmals noch darüber lachten

Und sich heimlich lustig machten. -

Ja, zur Übeltätigkeit,

Ja, dazu ist man bereit!

Menschen necken, Tiere quälen

Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen -

Das ist freilich angenehmer

Und dazu auch viel bequemer,

Als in Kirche oder Schule

Festzusitzen auf dem Stuhle. -

Aber wehe, wehe, wehe!

Wenn ich auf das Ende sehe!"

Die kleine Feldsteinkirche St. Nikolai aus dem 13. Jahrhundert liegt gleich zur Linken. Rechts sieht man die "Lütke Schule", die kleine Schule, in die auch Kurt Cholewa gegangen ist und die schon in Buschs späten Jahren hier stand. Heute ist sie umgebaut zum Gemeindebüro samt Sitzungssaal. Dazwischen das Pfarrhaus, in dem Busch lange gelebt hat und das jetzt halb Heimat-, halb Busch-Museum ist, modernisiert mithilfe des zupackenden Technikers Cholewa. Buschs Schwester Fanny war mit dem Wiedensahler Pastor Hermann Nöldeke verheiratet; im Alter von 40 Jahren zog der zeitlebens alleinstehende Busch, der zuvor in München und Frankfurt gelebt hatte, nach Wiedensahl zurück und im geräumigen Pfarrhaus ein. Die beiden schlichten Kammern, die er dort bewohnte und deren "mildes Nordlicht" der Zeichner Busch rühmte, kann man besichtigen. Als der Schwager Nöldeke, noch Pfarrer und Landwirt zugleich, 1879 starb, ließ Busch, inzwischen der zweitgrößte Steuerzahler im Ort, das alte Pfarrwitwenhaus renovieren und zog mit Fanny dorthin.

Max und Moritz, vollgefressen mit Brathühnchen, von Wilhelm Busch. (Foto: mauritius images / imageBROKER)

In der entgegengesetzten Richtung die sehr, sehr lange Hauptstraße hinunter, die Cholewa in entschiedenem Lokalpatriotismus "Museumsmeile" nennt, liegt des Meisters Geburtshaus: Hier werden Busch-Ausgaben aus aller Welt gesammelt, Wechselausstellungen seiner Zeichnungen und Gemälde gezeigt - gerade sind es Stücke aus einem seiner Skizzenbücher. Man kann über das Wirken des Künstlers Buschs anhand von Exponaten wie seinen Faber-Bleistiften nachsinnen. Hier hat Frauke Quurck, die Leiterin der Busch-Museen in Wiedensahl, ihr Büro, und hier steht auf sich wölbenden Dielen des alten Bauernhauses das Bettchen des kleinen Wilhelm. Vater Busch war der Krämer des Dorfes. Nebenan, im heutigen Busch-Keller, wo die Ururgroßnichte Friederike Wilkening ganz im Sinne ihres Onkels exzellente Obstliköre ansetzt ("Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör!") war sein Geschäft.

"Wer Sorgen hat, hat auch Likör!"

Frauke Quurck, noch keine 40, zeigt ihre beiden kleinen Museen mit kundiger Liebenswürdigkeit. Als Ethnologin schätzt sie an Busch den "genauen, fast ethnografischen Blick" auf seine Zeit, die Menschen, das Dorf. Sein künstlerischer Blick ist der auf das vorindustrielle 19. Jahrhundert - nirgendwo raucht ein Schornstein, Lokomotiven sind nicht einmal nur von Ferne zu sehen, kein Automobil rollt. Die Menschen in seinen Bildergeschichten sind biedermeierlich-bäuerlich gekleidet, und meistens spielt ohnehin alles auf dem Land, dort, wo Fuchs und Hase einander Gute Nacht sagen. "Komm aufs Land, wo sanfte Schafe/ Und die frommen Lämmer sind," heißt es doppelbödig-ironisch in der "Frommen Helene", die natürlich so wenig fromm ist wie die Lämmer.

Komm aufs Land: Diese Devise schwebt über Buschs Ölbildern, die er, der als 20-Jähriger ein prägendes Jahr an der Königlichen Kunstakademie in Antwerpen verbracht hatte, in Wiedensahl im Stil niederländischer Meister malte. Zumal im Vergleich zu seinem weltbekannten zeichnerischen Werk waren sie lange Zeit eher unbekannt. Busch selbst scheint ihnen nicht ganz getraut zu haben, so zurückhaltend ging er mit seinen Gemälden um, von denen einige im Münchner Lenbachhaus hängen. Wie die Busch-Biografin Gudrun Schury klug bemerkt, habe er sich "immer wieder mit den gleichen Landschaftsausschnitten, mit der gleichen Kombination aus Kuh, Hirte, Büschen oder aus Wiesen, Stämmen und Himmel" beschäftigt. Die wenigen Menschen, die vorkommen, oft winzig klein, Jäger, Bauern, Hirten, tragen immer rote Jacken.

Das fiel auch Paul Klee auf, der nach Buschs Tod 1908 festhielt: "... ein wohlorientierter Europäer. Einige Kerle mit roten Jacken gehören in eine Gemäldegalerie, sind durchaus gut." Busch selbst bezeichnete seine Bilder schon mal als "Gschmier", zu seinen Lebzeiten wurde keines ausgestellt. Das passt zu der scheuen Art, wie er mit dem Ruhm für sein zeichnerisches Werk und seine Verse verfuhr, die ihn zwar reich machten, auf die er aber ungern von fremden Bewunderern angesprochen wurde.

Heimkehr in die ländliche Idylle

Dies mag ein Grund gewesen sein, dass Busch sich, nach vielen Jahren in München, wo er durch seine Zeichnungen für die Fliegenden Blätter und den "Münchner Bilderbogen" bekannt geworden war und berühmt durch "Max und Moritz", wenn auch noch nicht wohlhabend, zurückzog ins vertraute Wiedensahl. Auch in Frankfurt hatte er drei Jahre gelebt, und nun war es die ländliche Idylle, die er suchte, fand und malte. Wenn er nicht mit raschem Strich Bildergeschichten zeichnete, in denen er mit spöttischen, kunstfertigen Versen wie diesem aus der "Frommen Helene" die dunklen Ängste der braven Bürger gleich welcher Konfession aufspießte:

"Schweigen will ich von Lokalen

Wo der Böse nächtlich prasst

Wo im Kreis der Liberalen

Man den heil'gen Vater hasst."

Keiner konnte so schön von der Verderbtheit der städtischen Welt reimen wie der zum Landleben entschlossene Busch.

Man muss sich die prächtig asphaltierte Hauptstraße des alten Straßendorfs Wiedensahl krumm und sandig vorstellen, mit ein paar an den stattlichen Höfen zur Rechten und zur Linken vorbeitrottenden Kühen. So ist zu ahnen, wie es zu Buschs Lebzeiten hier aussah. Einige der alten Häuser am Sahl, dem Dorfteich, tragen noch die traditionelle Schaumburger Mütze, einen rund vorkragenden Giebel. Geht man nur ein paar Hundert Meter nach Osten, sieht man, was ähnlich schon Busch sah: Pferdeweiden, Felder, Vieh, in der Ferne den Schaumburger Wald. Dorthin lenkte Busch immer wieder seine Schritte: vorbei an den Höfen der Nachbarn in die Feldmark, wo der Künstler Erholung, Inspiration und Motive fand. Immer noch ist Wiedensahl ein lebendiges, anziehendes Dorf: Es gibt um die 40 Vereine, junge Familien aus der Umgebung versuchen, Baugrundstücke zu ergattern, zum Martinimarkt im November kommen Tausende.

Klirr! Perdatsch! Bautz!

Zwei Zwölfjährige auf Fahrrädern kommen dem Fremden in großen, selbstvergessenen Schwüngen entgegen, sie gucken neugierig und grüßen brav im Vorbeiradeln, wie sie es gelernt haben. Was täten jetzt Max und Moritz? Oder die Brüder Franz und Fritz aus dem "Bad am Samstagabend ", zwei andere junge Unholde aus Buschs unendlichem Kosmos? Die hätten die Gelegenheit für einen Streich genutzt, für eine kleine Gemeinheit, die ihr Schöpfer mit einer seiner unsterblichen Lautmalereien versehen hätte: Klirr! Perdatsch! Bauz!

Und schon läge der Mann aus der Stadt nach einem grotesken Sturz im Graben oder hielte sich den schmerzenden Schädel. Schön wär's nicht, aber beim Gedanken daran muss man lachen, dort am Feldrain in Wiedensahl.

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