In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort - Menschen, denen wir täglich begegnen, über die jeder eine Meinung hat, aber die wenigsten eine Ahnung: eine Wiesnbedienung, ein Pfarrer, die Frau an der Supermarktkasse. Sie erzählen uns, wie sie sich fühlen, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erklärt Hebamme Anne K., wie es im Kreißsaal zugeht.
Das Baby ist da, es ist gesund, die Mutter wohlauf: Das könnte ein magischer Moment sein, der nur den Eltern gehört - wenn da nicht die Familie wäre. Ich arbeite in einem Krankenhaus in Berlin, oft steht schon während der Geburt die Großfamilie vor der Tür und wartet. Teilweise stürmen dann zehn Leuten ins Zimmer, wenn die Frau untenherum noch nackt ist und verschwitzt, die Beine voller Blut. Als Hebamme muss ich dann erspüren, ob das für das Paar überhaupt gut ist. Die Frau will vielleicht keinen Besuch, aber das darf ich den Angehörigen nicht ins Gesicht sagen. Also versuche ich es höflich, doch manche Familien ignorieren mich einfach.
Das sind Grenzüberschreitungen, mit denen ich nie gerechnet hätte. Manchmal muss ich regelrecht die Tür verteidigen. Einmal haben eine Kollegin und ich Betten vor der Tür verkantet, um die Besucher aufzuhalten. Ich kann die Ungeduld ja verstehen, aber denkt doch mal nach: Niemand würde sich aussuchen, in einem solchen Zustand besucht zu werden. Es ist total unangemessen, das Handy zu zücken und Selfies zu machen. Manchmal sehe ich die Frauen ein paar Wochen später bei sich zu Hause wieder. Da hat dann plötzlich keiner mehr Zeit und die junge Mutter ist völlig überfordert.
Eine Sorge, die fast alle Frauen im Vorgespräch äußern, ist, dass unter der Geburt mehr Körperflüssigkeiten austreten könnten als ihnen lieb ist. Um es klar zu sagen: dass Stuhlgang abgeht. Der Gedanke, dass ihre Männer das sehen könnten, ist für viele unerträglich. Das kann ich gut verstehen. Aber vor mir braucht ihr euch wirklich nicht zu schämen! Das ist mir völlig egal, es gehört einfach zum Alltag.
Schwieriger sind für mich andere Dinge. Zum Beispiel würde es mir die Arbeit erleichtern, wenn ihr Frauen mehr Vertrauen in euren eigenen Körper hättet. Aber der eigenen Intuition vertrauen, das können viele heute nicht mehr. Bei einer platzte einmal die Fruchtblase, danach hat sie mich alle zwei Minuten gefragt: "Was läuft da?" - "Und was läuft da jetzt?" Am liebsten hätte ich ihr einen Spiegel in die Hand gedrückt. Ich glaube, dass Frauen das eigentlich können. Sie gehen mit Vertrauen in die Schwangerschaft. Aber es gibt leider eine Überversorgung in der Vorsorge, weil Ärzte sich gegen alles absichern wollen. Das verunsichert viele von euch.
Ihr gebt die Verantwortung für die Geburt dann an mich als Hebamme ab, statt auf die eigene Kraft zu vertrauen. Aber eine Geburt ist nun mal Arbeit, ich kann nur unterstützen. Sobald die erste Wehe kommt, sagen manche Frauen sofort: "Ich schaff das nicht." Und als nächstes: "Wann bekomme ich die PDA?", also die Narkose, die eine schmerzarme Geburt ermöglicht. Natürlich habe ich nichts gegen eine PDA, wenn ihr es irgendwann nicht mehr aushaltet. Aber ich finde es schade, wenn eine Frau schon mit der Einstellung zu mir kommt: Sobald die erste Wehe da ist, will ich nichts mehr mitbekommen. Viele erleben die Geburt mit der PDA viel passiver. Deshalb: Lasst euch doch erstmal darauf ein.