Soziale Netzwerke:"Paula Tinder" hat jetzt Kinder?

Soziale Netzwerke: Die "Status"-Funktion bei WhatsApp: Besser als jede Seifenoper.

Die "Status"-Funktion bei WhatsApp: Besser als jede Seifenoper.

(Foto: Getty Images; Collage Jessy Asmus)

Klassenchat, Familiengruppe - uninteressant im Vergleich zur Status-Funktion von Whatsapp. Denn die Beiträge dort geben Einblicke in das Privatleben längst vergessener Menschen.

Von Jan Stremmel

Aha, sehr interessant: "Jens Ebay Bügeleisen" ist gerade auf Kreta und trinkt Heineken auf dem Balkon. "Raffaella Airbnb Neapel" hat heute ihre Rosen gegossen. "Paula Tinder" wiederum hat ihren Kindern (die sie bekommen haben muss, nachdem wir vor sechs Jahren mal ein Date hatten) ein Eis gekauft. Und, oje, "Andi Skilehrer" postet einen Tweet von Annalena Baerbock, mit dem sie zum islamischen Opferfest gratuliert: "Na dann frohes Kehledurchschneiden! 😂"

Willkommen zu meinem neuen Morgenritual. Seit ich die "Status"-Funktion bei Whatsapp entdeckt habe, verfolge ich das Privatleben längst vergessener Menschen aus meiner Vergangenheit wie eine Seifenoper.

Die meistgenutzte Messenger-App Deutschlands hat nämlich eine deutlich weniger bekannte Nebenfunktion, die an die "Stories" von Instagram angelehnt ist: Man kann Bilder, Texte oder Videos posten, die nach 24 Stunden automatisch verschwinden. Eine Art Live-Berichterstattung aus dem eigenen Leben. Nur dass man auf Whatsapp - im Gegensatz zu Instagram - keine Follower braucht. Die Bilder gehen theoretisch an jeden raus, mit dem man jemals zu tun hatte.

Dort ist man nämlich standardmäßig mit allen Menschen verbunden, die man in seinem Handy gespeichert hat. Zum Beispiel mit "Sandro Waschmaschine", einem Georgier, dem man 2013 mal eine alte Miele abgekauft hat. Mit "Alexa🔥", einem uralten One Night Stand aus der Studienzeit. Oder mit "Meierhofer Hausverwaltung", dem strengen Vermieter der vorletzten WG.

Es ist, als hätte man versehentlich die falsche Wohnungstür geöffnet

Das macht den Whatsapp-Status - den man beim iPhone in der unteren Steuerleiste der App ganz links findet - so faszinierend. Man kennt sich nicht unbedingt, hat sich möglicherweise seit Jahren nicht geschrieben; und sieht plötzlich, wie der andere so lebt und denkt. Es ist, als hätte man versehentlich die falsche Wohnungstür geöffnet und stünde jetzt den Nachbarn in ihrem Esszimmer gegenüber. Moment mal, wer seid ihr nochmal? Und, wow, hier hängt wirklich eine Bundesliga-Stecktabelle an der Wand?

Natürlich ist man den Blick ins Private in sozialen Netzwerken längst gewohnt. Aber während Instagram oder Twitter wie gut geführte Privatclubs funktionieren, bei denen man den Eingang kennen und die Kleiderordnung respektieren muss, ist Whatsapp wie ein Hauptbahnhof: Ein funktionaler Ort, an dem sämtliche Schichten und Milieus aufeinandertreffen, bevor sie sich wieder in alle Richtungen zerstreuen. Jeder benutzt es, 70 Prozent der Deutschen sogar täglich, und selbst ältere Herren, die sich im Leben nicht auf Instagram anmelden würden, fühlen sich hier dazu verleitet, wenn sie schon mal da sind, nun doch auch mal ihre Lebenswelt zu teilen.

So erklärt sich vielleicht auch, dass in den Whatsapp-Storys häufig die etwas weniger zeitgeistigen Menschen aus dem eigenen Telefonbuch ihren großen Auftritt haben. Wer eine Stichprobe auf den Handys von Freunden macht, findet jedenfalls auffallend oft Beiträge von Dieselfans und Grünen-Feinden, politisch unkorrekten Hobby-Humoristen und Frauen mit einem Faible für Karikaturen von Uli Stein. Mal ist es rührend privat, mal fühlt es sich an, als säße man mit am Stammtisch.

Da ist die ältere Nachbarin aus dem Lanzarote-Urlaub, die jeden Tag ausnahmslos mit "Buenos días" begrüßt und mit "Buenas tardes" verabschiedet - dazu jeweils ein tagesaktuelles verwackeltes Strandbild. Da ist der entfernte Cousin, der abwechselnd seinen Hund fotografiert und mit haarsträubenden Argumenten die Coronamaßnahmen in Frage stellt. Da ist die längst vergessene Interviewpartnerin, die alle paar Wochen traurige Sinnsprüche vor wolkenverhangenen Bergpanoramen postet.

Es ist eine ganz eigene Sprache und Weltsicht, die in diesen Posts gepflegt wird. Auf Reddit verewigen Nutzer fast täglich besonders wilde Beispiele, die auf ihrem Handy aufploppten - und klingen dabei amüsiert bis fassungslos, etwa: "Der Vater eines Kumpels heute in seiner Whatsapp-Story." Oder: "Ich glaube, mein ehemaliger Klassenlehrer verliert den Verstand."

Natürlich könnte man als Zuschauer jederzeit eingreifen. Mit nur einem Klick wäre man im Chat mit dem Absender und könnte sich zum Beispiel erkundigen, wie alt Paulas Kinder sind. Aber nein, die Whatsapp-Storys genießt man passiv und schweigend, so wie man am Fernseher durch Nischensender zappt: Hier ein wohliger Schauer der Fremdscham - Oh Gott, das meint er nicht ernst?! -, dort ein kleiner Stich der Erinnerung - Mensch, der Urlaub in Neapel! Und dann wischt man lieber wieder zurück in die Gegenwart, zu den eigenen Chats, ins eigene Leben. Soll "Andi Skilehrer" doch über Baerbock denken, was er will.

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