Wenn die Großeltern die Eltern sind:Die Enttäuschung, als ich meinen Vater kennenlernte

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Noch größer wurde die Enttäuschung, als ich meinen Vater kennenlernte. Eines Tages klingelte das Telefon und eine Frauenstimme sagte: "Hallo Edina, hier ist deine Stiefmutter. Ich rufe an, weil dein Vater dich kennenlernen möchte."

Mein Vater hatte befürchtet, dass meine Großeltern den Hörer wieder auflegen würde, wäre er am Telefon gewesen und deswegen ließ er seine Frau anrufen. Vor allem vor Opa hatte er Angst gehabt. Schließlich hatte er ihm damals noch nicht mal den Gefallen getan, ins Krankenhaus zu kommen, um meine Geburtsurkunde zu unterschreiben. Und jetzt waren so viele Jahre vergangen, seitdem sie sich gesehen hatten. Doch letztendlich hatte er nichts zu befürchten. Oma und Opa waren nicht abweisend, als er uns das erste Mal besuchte.

Zwei Tage nach meinem fünfzehnten Geburtstag klingelte es an der Tür und er stand vor mir. Er war groß, hatte breite Schultern und wirkte in seinem langen schwarzen Mantel überwältigend. Er war so, wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Als er mich dann in seine Arme nahm, war ich überglücklich.

Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen. Wir gingen in die Stadt, zusammen shoppen und anschließend gemeinsam etwas essen. Ich musste ihn die ganze Zeit ansehen. Abends wollte ich ihn gar nicht mehr gehen lassen. Ich war so fasziniert von ihm - trotz der Jahre, in denen wir keinen Kontakt gehabt hatten.

Nach ein paar Wochen kam er wieder zu Besuch, diesmal mit seiner Frau und seinen Kindern, meinen Halbgeschwistern. Ich sollte sie alle kennenlernen und verstand mich gut mit ihnen. Nach ein paar Monaten sollte ich sie im Schwarzwald besuchen. Mein Vater kam mich abholen. Zusammen machten wir uns auf den Weg.

So schnell wie ich ihn kennengelernt hatte, verlor ich ihn wieder

Wir fuhren auf der Autobahn - und betrachteten die Ausläufer des Schwarzwaldes. "Edina, ich sehe dich nicht als meine Tochter, sondern als eine attraktive Frau", sagte er auf einmal. Wenn man den eigenen Vater nach fünfzehn Jahren kennenlernt, denkt man sich nichts dabei. Im Gegenteil: Für mich war das in dem Moment sogar ein Kompliment. Schon immer hatte ich mich gefragt, wie es wohl sein würde, wenn ich ihn zum ersten Mal wiedersehen würde. Was würde er von mir halten? Würde er mich lieben? Jetzt hatte ich meine Bestätigung endlich bekommen. Ich war so glücklich.

Doch dann kam alles anders. An einem Vormittag blieb ich mit meinem Vater alleine zu Hause. Ich war gerade dabei, mich in meinem Schlafzimmer umzuziehen. Mein Vater überraschte mich: Er kam ins Zimmer, packte mich, nahm mich hoch, drückte mich an die Wand und schmiss mich aufs Bett, um mich anzufassen. Ich wehrte mich heftig und trat ihm in den Schritt. Endlich ließ er von mir ab.

Ich war erschrocken, wie unter Strom. Als meine Stiefmutter zurückkam, konnte ich mich ihr nicht anvertrauen. Die Anspannung war viel zu groß und ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu erzählen, dass mich mein Vater zu vergewaltigen versuchte hatte. Ich wollte nur noch zu meinen Großeltern, zurück nach Hause.

Am Tag danach sollte mich mein Vater wieder nach Frankfurt bringen. Ich sagte immer noch nichts und fuhr mit ihm schweigend drei Stunden zurück. Wir schauten uns nicht einmal an. Auch bei der Ankunft meiner Großeltern ließ ich mir nichts anmerken. Ich verabschiedete meinen Vater so, als ob nichts vorgefallen wäre.

Es dauerte zwei Monate, bis ich mich meiner Oma anvertraute und ihr erzählte, was während des Besuchs bei meinem Vater passiert war. Ich traute mich nicht, meinen Großvater einzuweihen und bat meine Oma, es zu tun. Als er davon erfuhr, war er außer sich. Er redete auf mich ein, ich sollte zur Polizei gehen und Anzeige erstatten.

Ich zögerte, doch dann erstattete ich Anzeige gegen den großen, schönen, starken Mann, dessen Aufgabe es hätte sein sollen, mich zu beschützen. Als ich zur Polizei kam, schickte man mich zum Gerichtspsychologen. Ich erzählte ihm alles über den Vorfall. Es kam zum Gerichtsverfahren. Nach einem halben Jahr wurde mein Vater zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. So schnell wie ich ihn kennengelernt hatte, verlor ich ihn auch wieder.

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