Immer wenn die Wut in ihr hochsteigt, dann stellt sie ihren selbstgebastelten Paravent auf den Balkon, so dass ihn jeder von der Straße aus sehen kann. "Behindern ist heilbar" steht darauf, er ist beklebt mit Flyern und er ist bunt, genau wie Annette Gümbel-Rohrbach selbst. Ihre Lippen sind rot, ihre Kleidung wild gemustert, die weißen Haare stehen vom Kopf ab wie kleine Stacheln. "Genau das stört manche", sagt sie, "dass ich mich eben nicht behindertengerecht verhalte."
Seit sie auf einen Elektrorollstuhl angewiesen ist, seit etwa zehn Jahren also, hat sie vieles erlebt, was sie wütend machte: zu hohe Bordsteinkanten, vollgestellte Rollstuhlrampen. In dem Münchner Mietshaus, in dem sie wohnt, kommt sie nicht in den Müllraum, eine Bibliothek und ein Meditationsraum für die Bewohner sind für sie nicht erreichbar. Sie wurde auf der Straße beleidigt und hörte Sprüche wie: Wenn du mit dem Rollstuhl tanzen kannst, dann kannst du auch das Treppenhaus putzen. "Wir leben im 21. Jahrhundert", sagt sie, "so etwas darf einfach nicht sein."
Tatsächlich dürfte das eigentlich nicht mehr sein, jedenfalls wenn es nach der UN-Behindertenrechtskonvention geht. Vor zehn Jahren trat sie in Deutschland in Kraft, ihre Verabschiedung 2006 durch die UN-Generalversammlung in New York gilt noch heute als Meilenstein.
Inklusion:Behinderung geht jeden etwas an
Seit zehn Jahren gilt in Deutschland die Behindertenrechtskonvention - getan hat sich nur wenig. Das ist nicht gut für die Gesellschaft als Ganzes.
Behinderte weltweit haben es seitdem gemäß dem völkerrechtlich bindenden Vertrag schriftlich: Nicht sie sind das Problem. Sie sind keine Kranken, sondern gleichberechtigt mit allen anderen. Ihre Behinderung entstehe "aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren" - Barrieren, die abzubauen sich die Staaten mit der UN-Konvention verpflichteten.
Die Bilanz, die Behindertenvertreter nach diesen zehn Jahren für Deutschland ziehen, fällt allerdings sehr gemischt aus. "Es hätte mehr erreicht werden können", meint etwa Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention beim Institut für Menschenrechte in Berlin. Bei einigen politischen Entscheidungen wie dem barrierefreien Bauen, der gesellschaftlichen Teilhabe, aber auch anderen Politikfeldern hätten Menschen mit Behinderungen immer noch klar das Nachsehen.
Und noch schlimmer: Er sieht einen Trend zur Exklusion. Angesichts von Überlegungen einzelner Bundesländer, die stark in die Kritik gekommene Inklusion an Schulen zurückzudrehen, fordert er daher einen "Pakt für Inklusion" - analog zum Digitalpakt.
Selbst bestimmen, wie und wo man wohnt
Besonders kritikwürdig ist für Aichele, dass Sonderstrukturen für Behinderte, wie zum Beispiel spezielle Werkstätten oder Wohnstätten, in Deutschland weiter existieren, ja, sogar ausgebaut werden. Dennoch gesteht Aichele zu, dass die Konvention in Deutschland wichtige Entwicklungen angestoßen hat - auch wenn man "noch einen langen Weg" vor sich habe.
Diesen langen Weg behutsam zu beschreiten hilft Barbara Günther. Sie ist Fachreferentin bei den Diensten für Menschen mit Behinderung der Diakonie im fränkischen Neuendettelsau, wo Menschen mit Behinderung gemeinsam lernen, arbeiten und wohnen. Günther spürt die Aufbruchstimmung, welche die UN-Konvention gebracht hat, seit Jahren.
So hat sie festgestellt, dass Menschen mit Behinderung ihr Recht auf Wahlfreiheit, wie und wo sie wohnen wollen, inzwischen laut und mit Vehemenz äußern. Paare mit Behinderung setzten ihren Wunsch nach einer gemeinsamen Wohnung mittlerweile mit großer Entschiedenheit durch.
Auf die Selbstständigkeit, sei es nun in Wohngemeinschaften oder in einer eigenen, gemeinsamen Wohnung, muss man aber vorbereitet werden. Dies passiert laut Günther in sogenannten Wohnschulen: Wie stelle ich eine Waschmaschine an? Wo deponiere ich den Haustürschlüssel? Nicht nur die Strukturen müssten geschaffen werden, auch die Befähigung, sie zu nutzen, meint Günther.
Autonomie, Selbstbestimmung: Das waren die Worte, die bei der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention bei den Vereinten Nationen durch die Säle hallten. Antje Welke, Leiterin der Abteilung Konzepte und Recht der Bundesvereinigung der Lebenshilfe, kann sich noch gut an die euphorische Stimmung erinnern, die schon bei der Vorbereitung der Konvention in New York herrschte. Sie war Teil der deutschen Delegation unter dem damaligen Behindertenbeauftragten Karl Hermann Haack und hat die Verhandlungen als "extrem bunte Veranstaltung" in Erinnerung.
Zum ersten Mal in einer solchen UN-Verhandlung seien Menschen mit Behinderung anwesend gewesen, um ihre Rechte selbst einzufordern. "Es ging hoch her", erinnert sich Welke. Die Diplomaten im Saal hätten damals ganz neue Erfahrungen gemacht. Es sei teilweise sehr laut geworden, "da wurde auch mit Türen geknallt". Behinderte, die auf ihre Rechte mit Vehemenz pochen - das war man nicht gewöhnt.
Arbeiten mit Handicap:Verhindern Werkstätten für Behinderte die Inklusion?
Sie wollen ihre produktivsten Mitarbeiter nicht an den ersten Arbeitsmarkt verlieren. Selten gelingt der Übergang auf eine reguläre Stelle.
Die Elektrorollstuhlfahrerin Annette Gümbel-Rohrbach dagegen war noch nie still. Sie diskutiert mit Nachbarn und der Wohnbaugenossenschaft, sie schreibt Leserbriefe. Sie geht in Kitas und Schulen, um den Kindern zu erklären, wie ihr Rollstuhl funktioniert. Vielleicht auch, weil sie gesund zur Welt kam. Ihre Krankheit raubte ihr nur langsam die Kraft, sie lebte immer so, wie sie es sich vorstellte. Noch kurz bevor sie nicht mehr laufen konnte, schleppte sie ihre Freundinnen in die Disco, auch wenn die sich viel zu alt dafür fühlten. Nun aber ist sie nicht mehr frei, sie ist abhängig von der Hilfe anderer.
Abhängigkeit ist auch für Carina Kühne ein Graus. Sie hat den Sprung geschafft und ihren Traum, Schauspielerin zu werden, verwirklicht. Dabei waren ihre Voraussetzungen denkbar schlecht: Vor 34 Jahren wurde sie mit dem Down Syndrom geboren. Doch sie schaffte einen Hauptschulabschluss, mit Notendurchschnitt 2,3, in Englisch war sie sogar die Klassenbeste.
Sie spielt Klavier, schreibt gerne und sieht sich auch als Vorbild für andere Menschen mit Down Syndrom. Das sei keine Krankheit, man leide nicht darunter, sagt sie. Aber man leide unter der Ablehnung, der man deswegen ausgesetzt sei. Von ihrem Berufswunsch Schauspielerin hätten ihr viele abgeraten, erzählt sie. Sie hörte aber auf die vielen, die ihr zurieten.
Bordsteine abzusenken reicht nicht
Dass es diese Befürworter überhaupt gab, zeigt den Paradigmenwechsel in der Gesellschaft. Selbstbestimmung und Vielfalt haben einen großen Stellenwert, warum nicht auch Filme über Menschen mit Behinderung mit "echten" Behinderten drehen? In dem Film "Be my Baby" von Christina Schiewe spielte sie die Hauptrolle, eine junge Frau mit Down Syndrom, die sich ein Kind wünscht und mit diesem Wunsch auf große Vorbehalte trifft. Eine Rolle wie auf den Leib geschneidert für Kühne.
In einem eigenen Blog bestärkt sie Menschen mit Behinderung, ihr Lebenskonzept zu verfolgen. "Glaube an dich, gehe deinen Weg und habe Spaß und Freude daran und gib nicht gleich auf", das sei ihr Motto. Ihr größter Wunsch? Einmal auf der Bühne nicht die Behinderte zu spielen.
Auch Annette Gümbel-Rohrbach hat Wünsche für die Zukunft von Menschen mit Behinderung. Dass sie im Alltag präsenter werden - etwa bei der Verkehrserziehung in Schulen oder bei der Personalauswahl in Firmen. Wichtiger als abgesenkte Bordsteine, sagt sie, sei es, die UN-Konvention in die Gesellschaft zu tragen. "Behinderte dürfen sich nicht mehr in ihre Wohnungen zurückdrängen lassen, sie dürfen sich nicht mehr zurückziehen, sie dürfen nicht mehr still sein."