Todkranke:Noch einmal den Hafen sehen

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Karsten Queitzsch ist der Fahrer an diesem Tag. Mit Glatze und Poloshirt sieht er aus wie der Drogenfahnder Hank Schrader aus der Fernsehserie "Breaking Bad". Eigentlich hat Queitzsch heute Urlaub. Aber eigentlich wollte der Mann auch Lkw-Fahrer werden, und nun sitzt er seit 20 Jahren hinter dem Steuer eines Rettungswagens.

Queitzschs Revier ist der Leipziger Osten, die Eisenbahnstraße, der ein Boulevard-Magazin mal den Titel "gefährlichste Straße Deutschlands" verlieh. Im Wagen führen sie Sicherheitswesten, stich- und schusssicher bis neun Millimeter.

Zwölf Minuten - länger dürfen Rettungssanitäter nicht brauchen, um vor Ort zu sein. Oft sind sie schneller als die Polizei, stoßen nicht nur auf Notfälle, sondern auf Betrunkene, Methheads, Schläger. "Dann parkst du vor der Disco, schaust 20 Typen beim Prügeln zu und versuchst, nicht mitzumachen", sagt Queitzsch.

Wann immer im deutschen Gesundheitswesen etwas schiefläuft, auf der Straße merken sie es als Erste. Der Notruf sei längst eine Hotline geworden, sagt Queitzsch. Die Leute wählten ständig die 112, wenn sie Kopfschmerzen haben, keinen Facharzttermin, wenn sie einsam sind. Einmal habe jemand angerufen und gesagt, in seiner Wohnung liege ein verletztes Kind. Als die Retter die Tür aufgebrochen hatten, gab der Mann zu, nur seinen Schlüssel verloren zu haben. Warum gleich opfert Karsten Queitzsch seinen Urlaub?

Wenn Krankheit in das Leben sickert

Neulich habe er den Wünschewagen durch Hamburg gelenkt, erzählt Queitzsch. Ein Busfahrer, 56, Lungenkrebs, wollte noch einmal den Hafen sehen. Sie fuhren zu Planten un Blomen und auf die Köhlbrandbrücke bei Nacht. Man kann auf den 3618 Metern nicht parken, also schaltete Queitzsch in den ersten Gang, damit der Mann die Kräne sehen konnte und den Horizont. Der Fahrgast weinte und sein Fahrer vielleicht auch. "Solche Momente gibt es in meinem Beruf nicht so oft", sagt Queitzsch. Hinter ihm beginnt die Ernährungspumpe zu piepen. An der nächsten Raststätte setzt er den Blinker.

Bernd Stiegler hat Milka Tender und Kaffee gekauft. Sabine Stiegler kann nichts essen. Sie hat die Arme um den Oberkörper geschlungen. Die Sonne scheint, sie friert. Sie erzählt von dem Tag, als Krankheit in ihr Leben sickerte, dass Kais linker Arm ständig kribbelte, als wäre er eingeschlafen, nur sei er eben nie wieder aufgewacht. Als die Diagnose feststand, begannen die Eltern zu googeln. Sie dachten: MS - das bringt einen vielleicht in den Rollstuhl, aber es bringt einen doch nicht um.

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