Berlin:Pandemie-Effekt: Am Tag fehlen Wärmestuben für Obdachlose

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Ein Gebäude der Berliner Stadtmission ist zu sehen. (Foto: Jens Büttner/dpa-Zentralbild/dpa/Archivbild)

Die Berliner Stadtmission mahnt in der Corona-Pandemie vor zu wenig Aufwärm-Möglichkeiten für Obdachlose am Tag. "Fast überall heißt es nur noch weg, weg, weg,...

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Berlin (dpa/bb) - Die Berliner Stadtmission mahnt in der Corona-Pandemie vor zu wenig Aufwärm-Möglichkeiten für Obdachlose am Tag. „Fast überall heißt es nur noch weg, weg, weg, raus, raus“, berichtete Sprecherin Barbara Breuer. Allein zwischen acht Uhr abends und acht Uhr morgens greife das System der Kältehilfe mit Notübernachtungen. Doch dann müssten die Menschen zurück auf die Straße. „Berlin muss da im ersten Corona-Winter kreativer werden“, forderte Breuer.

„Den ganzen Tag laufen, damit man nicht einfriert.“ So beklagen sich viele Obdachlose zur Zeit bei ihren Helfen. Selbst Behörden verlangten nun telefonische Anmeldungen und Terminbuchungen für ihre Warteräume, sagte Breuer. Der Frust unter den Obdachlosen sei groß.

„Wir sind dabei, weitere Angebote für obdachlose Menschen zu schaffen, in denen sie sich auch tagsüber aufhalten können“, sagte Stefan Strauß, Sprecher der Senatssozialverwaltung. Zurzeit liefen dazu Gespräche mit der Senatsfinanzverwaltung und den Bezirken. In der Startphase sei die Kältehilfe in diesem Jahr extrem unbefriedigend angelaufen, ergänzte Strauß. Mittlerweile sei die Kapazität von mehr als 1000 Notübernachtungsplätzen unter coronagerechten Bedingungen in den Bezirken erreicht. Nach den bisherigen Erfahrungen reiche das auch. Die Angebote seien im Moment zu rund 80 Prozent ausgelastet.

Doch es gibt sie eben meist nur in der Nacht. Wie viele andere soziale Träger habe die Stadtmission tagsüber Essensausgaben oder ihre Kleiderkammer wegen der Abstandsregeln von drinnen nach draußen verlegen müssen, berichtete Sprecherin Breuer. „Für die Alten und Kranken muss das die Hölle sein.“ Die Verelendung wachse. Allein Breuer kennt rund 20 Rollstuhlfahrer unter den Gästen der Stadtmission. Oft seien Amputationen der Grund, weil Füße oder Beine erfroren.

Auch die Caritas bietet Hilfe für bedürftige Menschen in der kalten Jahreszeit an. Doch sie kann dafür zum Beispiel ihre Wärmestube und ihr Bistro am Bundesplatz in Wilmersdorf ab Dezember nicht öffnen. Vor dem Haus stehe nun montags bis freitags ein Foodtruck. Zum Aufwärmen gebe es die Kirche Heilig Kreuz, zu festgelegten Zeiten.

Die Pandemie macht in der Obdachlosen-Hilfe alles komplizierter. Statt 125 Plätzen kann die zentrale Notunterkunft der Stadtmission in der Lehrter Straße nahe am Hauptbahnhof nur noch 80 anbieten. In eiskalten Nächten schnell mal zusammenrücken wie früher - das ist nicht mehr erlaubt. Anders als sonst ist die Unterkunft nun ab Mitternacht geschlossen. Denn Voraussetzung für den Einlass ist ein Schnelltest auf das Virus.

„Jeden Abend haben wir rund ein bis zwei Positiv-Schnelltests“, schilderte die Sprecherin. Die Betroffenen übernachteten dann in Isolierzimmern. Ein PCR-Test am nächsten Tag bestätige die Ergebnisse nicht immer. Doch wer auch beim Labortest positiv sei, könne auf die Quarantäne-Station. Sie sei für Obdachlose einmalig in Deutschland.

Tests stünden für Obdachlose ausreichend zur Verfügung, sagte Sprecher Strauß für die Senatssozialverwaltung. Doch nicht jede Notübernachtung kann sie anbieten, wenn ihr medizinisches Personal fehlt. „Wir rechnen damit, dass der Bedarf an Quarantäne- und Isolationsplätzen ab Dezember stark steigen wird“, ergänzte Strauß. Die Quarantäneplätze in der Lehrter Straße würden deshalb von 16 auf 28 Plätze erweitert. Am gleichen Standort sollen ab Anfang Dezember 100 bis 120 weitere Isolations- und Quarantäneplätze dazukommen.

Ein Krankenwagen werde dann Gäste anderer Notübernachtungen mit positivem Schnelltestergebnis in diese Quarantäneeinrichtung fahren. Das klappt allerdings schon jetzt nicht immer. „Ein Mann ist nach einem positiven Test-Ergebnis einfach weggelaufen“, berichtete Breuer. Viele andere Obdachlose hielten sich aber an die Auflagen.

Allein die Stadtmission schickt zur Zeit zwei Kältebusse und einen Suppenbus auf die Straße. 750 Nothilfe-Päckchen gibt sie zusätzlich jeden Tag aus. Dafür fehlt Manches: Helfer, die Stullen schmieren, große gesponserte Obst-Lieferungen - und vor allem Geldspenden. Im Pandemie-Frühjahr habe das manchmal besser geklappt, resümierte Breuer.

Berlins Obdachlose haben sich nach Einschätzung der Helfer im Vergleich zu früher verändert. Sie sind älter, kränker, internationaler - und ein Fünftel sind inzwischen Frauen. 70 bis 80 Prozent aller Gäste hätten heute auch psychische Erkrankungen, berichtet Breuer. „Das hat extrem zugenommen. Da kommen wir mit den normalen Mitteln nicht mehr weiter.“ Wenn ein Mensch von Chips erzähle, die ihm der Geheimdienst eingepflanzt habe, könne Sozialberatung allein kaum helfen.

Die Senatssozialverwaltung sieht dieses Problem. Die Kältehilfe sei kein Instrument für prekäre Lebenssituationen, sagt Sprecher Strauß. Nötig seien in den Bezirken Unterkünfte, in denen Menschen länger bleiben könnten, für Beratung und die Prüfung ihrer Ansprüche. Wie es heute damit manchmal aussieht, weiß Sprecherin Breuer: Ein Mann aus Slowenien, der nach einen Unfall auf einer Berliner Baustelle nun im Rollstuhl sitze, habe erst nach zwei Jahren auf der Straße eine Unterkunft gefunden - trotz seiner Arbeitsnachweise in Deutschland.

Ende Januar wurden bei einer ersten Zählung in Berlin fast 2000 obdachlose Menschen erfasst. Ihre Zahl wird aber höher geschätzt - auf bis zu 10 000 Menschen, die keine eigene Bleibe haben. Nicht alle von ihnen leben jedoch dauerhaft auf der Straße.

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