"Nicht zu fassen: Wie stellen die sich das vor? Die sind wohl verrückt!" Wer hat nicht schon mal gejammert - über die "ständigen" Tariferhöhungen im Nahverkehr, die "abgehobenen" Preise im Bio-Supermarkt, die "überteuerte" Zahnarztrechnung - und währenddessen baumelt an der Armbeuge die neue Handtasche (es ist die zweite blaue, nur etwas größer). "Wie soll ich das nur bezahlen!?", seufzt man - schiebt sich empört ein Stück Pizza in den Mund und spült es mit einem Schluck Barolo hinunter (man hatte heute keine Lust zu kochen). Womöglich winkt man später noch spontan ein Taxi heran, weil man keinen Nerv hat, nachts bei der Kälte auf die Tram zu warten.
Ist ja nicht so, dass das Geld nicht da wäre. Nur - leider hat man es für etwas anderes ausgegeben. Zum Beispiel auf dem Oktoberfest: Obwohl alle jammern, dass der Preis für die Wiesnmass seit 1980 kontinuierlich gestiegen ist (auf das Vierfache!), hat sich der Pro-Kopf-Konsum nahezu verdoppelt.
So schlimm kann es um die Mittelschicht also nicht stehen. Doch wer ist das überhaupt, die Mittelschicht? Das kinderlose Akademikerpaar, das in einer Altbauwohnung zur Miete lebt; der selbstständige Handwerker, dessen Frau seine Buchhaltung macht und sich um die beiden Töchter kümmert; die allein erziehende Physiotherapeutin - sie alle zählen (sich) dazu: Die Mittelschicht ist ausgesprochen heterogen, ihre Übergänge zur Unter- und Oberschicht fließend. Abgesehen von ökonomischen Faktoren gelten auch Herkunft, Bildung und Habitus als Kriterien.
Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt die mittlere Einkommensgruppe - obschon leicht schrumpfend - traditionell den zahlenmäßig größten Anteil der Bevölkerung, nämlich 61 Prozent. Ein beruhigendes Gefühl für den, der dabei ist. Umso beunruhigender die Vorstellung, den Anschluss an diese Bevölkerungsgruppe zu verlieren. Entsprechend sensibel reagieren manche auf Veränderungen, die ihre Position darin in Frage stellen könnten. "Dann tue ich alles dafür, um nicht abzusteigen", sagt der Wirtschaftspsychologe Martin Sauerland, Professor an der Universität Koblenz. Erstaunlich sei allerdings der Grad der Besorgnis, der nicht immer im Verhältnis zum tatsächlichen finanziellen Backround stehe.
Geht es darum, Herzen zu amputieren?
Solche Ängste sind größtenteils irrational: "Zahlreiche Befragungen haben ergeben, dass gerade Wohlhabende ihre Positionierung in der oberen Mittelschicht falsch, nämlich weiter unten, einschätzen", sagt Judith Niehues vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Die Volkswirtin erklärt das Phänomen so: "Die Referenzgruppe der Wohlhabenden ist nicht die Gesamtbevölkerung, sondern das unmittelbare Umfeld, also andere Wohlhabende. Dadurch ist ihnen meist nicht bewusst, wie viele Menschen ein geringeres Einkommen haben als sie selbst."
Eine Lust am Jammern hat sich etabliert, die mitunter beschämende Züge annimmt. Obwohl es uns so gut geht wie nie zuvor, tun wir, als sei unsere Existenz bedroht. "In Anbetracht des Niveaus, auf dem sich die meisten von uns bewegen, ist es geradezu grotesk, wieviel gejammert wird", sagt Wirtschaftspsychologe Sauerland. Wir müssten weder frieren noch hungern und könnten die meisten unserer Bedürfnisse befriedigen. Doch im Gegensatz zum Hunger würden wir bei Geld keinen Sättigungseffekt verspüren. "Nachweislich lässt sich oberhalb eines Einkommens von 60 bis 70 000 Euro die Zufriedenheit nicht mehr steigern, sondern pendelt sich nach einiger Zeit wieder auf dasselbe Level ein."
Daher ist es häufig keine Frage des realen Einkommens, wie benachteiligt sich jemand fühlt. "Vor allem in der oberen Mittelschicht wird auf hohem Niveau gejammert", sagt die Münchner Betriebswirtin Nicole Rupp. Das Horten und Ansparen gehöre dort zur Kultur, man definiere sich über Besitz. "Bei der Debatte um die Erbschaftssteuer könnte man meinen, es ginge darum, Herzen zu amputieren", sagt Geldcoach Rupp, die Seminare und Workshops zu Finanzthemen veranstaltet und zum Thema Erben berät. Mit anderen Worten: Wer mehr hat, hat mehr Angst, es zu verlieren.
Dabei gibt es genügend Menschen, die wirklich allen Grund zum Jammern hätten: Da ist die selbstständige Altenpflegerin, die abends und am Wochenende Nachtschichten übernimmt, damit es reicht für die Familie und das Studium des Sohns. Der pensionierte Busfahrer, der sich trotz Ruhestand etwas dazuverdienen muss. Oder die alleinerziehende Architektin, die trotz guter Ausbildung, harter Arbeit und hoher Verantwortung nichts auf die Seite legen kann. Und schließlich jene, die den Anschluss an die Mittelschicht verloren haben. Sie haben nichts zu horten, nichts zu sparen, nichts, um das sie fürchten könnten. Ihnen muss das Gejammer auf hohem Niveau wie der reinste Zynismus erscheinen.
"Evolutionspsychologisch ist Jammern zwar sinnvoll - weil es uns motiviert, weiterzukommen", erklärt Sauerland. Allerdings sollten wir dabei das richtige Maß nicht aus den Augen verlieren. "Was hat der ökonomische Erfolg mit der persönlichen Zufriedenheit zu tun? Nichts!" Das absolute Einkommen sei für den inneren Reichtum nicht relevant. Es sei an der Zeit, den Blick auch auf andere Werte zu richten: soziale Kompetenzen, Freundschaft, politische Freiheit.
Stattdessen fokussieren wir uns darauf, mehr Geld zu verdienen. Und wofür? Um mehr auszugeben, und das sehr oft für Überflüssiges - ungeachtet des finanziellen Backgrounds. Weil wir unersättlich sind, besessen von Konsum. "Manche kaufen dann die 19,90-Euro-Schnäppchen, dafür fünfmal." sagt Nicole Rupp. Da sei häufig kein Bewusstsein für Wertigkeit, das komme sie teuer zu stehen.
Doch wenn es nicht möglich ist, das Einkommen stetig zu erhöhen, wäre es dann nicht einen Versuch wert, einen Schritt zurück zu gehen und die Ansprüche zu reduzieren? Wenn wir damit aufhören, immer mehr zu wollen, sondern zur Abwechslung versuchen, weniger zu brauchen? Und Prioritäten zu setzen, statt wahllos zu kaufen?
Immerhin haben die meisten von uns diesen Bewegungsspielraum. Viele können wählen, wofür sie ihr Geld ausgeben. Allein durch die Entscheidung, auf etwas Unnötiges zu verzichten, können sie sich etwas Sinnvolles anschaffen. Oder haben auf einen Schlag mehrere Hundert Euro netto zusätzlich zur Verfügung - das schafft kaum eine Gehaltserhöhung. Diese Priorisierung wird häufig als Verzicht empfunden und als Zeichen für Mangel gewertet. Doch diese Entscheidungsfreiheit ist Luxus: Es gibt Menschen, die können nicht wählen, sondern sich weder das eine noch das andere leisten. Auch nicht, wenn sie lange Zeit dafür arbeiten würden.
Wir bringen uns um die Vorfreude
Wann haben wir eigentlich das letzte Mal auf etwas gespart, das uns wichtig war? "Wir sind es nicht mehr gewohnt, zu verzichten oder zu warten, bis wir das Geld zusammen haben", sagt Nicole Rupp. Wenn wir etwas wollen, kaufen wir es sofort. 2015 haben sich etwa 40 Prozent der Deutschen verschuldet - für ein Auto oder ein Motorrad, für Möbel oder technische Geräte. Damit bringen sich viele nicht nur in finanzielle Engpässe, sondern auch um die Vorfreude. Und weil das Glücksgefühl bei Impulskäufen so kurz ist, tun wir es wieder und wieder.
Die Industrie ködert uns permanent, mehr zu kaufen als wir brauchen und verdienen. Dabei haben die meisten von allem genug - mehr als genug. Die finanzielle Freiheit liege demnach in der Enthaltsamkeit, findet Rupp: "Wir müssen endlich kapieren, dass sich an der materiellen Unersättlichkeit ein innerer Mangel zeigt und uns abnabeln von der Macht des Geldes." Letztendlich komme es immer darauf an, was man aus seiner Situation mache. "Und das liegt in uns. Und nicht in der scheinbaren Ungerechtigkeit im Außen."
Im Grunde gehe es um die Frage: Ist mein Leben so, wie ich es haben will? Dann erkennt man schnell, dass man vieles nicht braucht. Und der Druck lässt nach. "Das verstehe ich unter einem reichen Leben", sagt Rupp. "Reicher wird es auch mit mehr Geld nicht."
Man kann es auch so formulieren: Wer Zufriedenheit allein am Geld festmacht, darf gerne jammern. Denn der hat wirklich ein Problem.