Kolumne: Vor Gericht:Gefängnis wegen 2,90 Euro Schaden

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Bitte nicht ohne: Ein gelber Aufkleber zeigt Fahrgästen, wo sie ein Ticket erwerben können. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Herr K. fährt mit der Straßenbahn zur Drogensubstitution, er hat kein Ticket, nicht zum ersten Mal. Dafür muss er vier Monate hinter Gitter.

Von Ronen Steinke

Wie kommt es, dass so viele Menschen in Deutschland im Gefängnis sitzen, mehr als 50 000, obwohl doch Gewalttaten in Deutschland zum Glück sehr selten sind und man sogar als Besucher eines Strafgerichts oft lange suchen muss, bis man unter den vielen kleinen Sälen einen findet, in dem über eine wirklich üble Tat verhandelt wird?

Amtsgericht Mainz, zum Beispiel: Weil er eines Morgens um 8.31 Uhr in der Straßenbahnlinie 53 keine Fahrkarte dabeihatte, saß Herr K. dort vor Gericht. Ein Prozess, wie es jeden Tag Hunderte gibt. Blass sah er aus, der Pullover schlabberte. Der Gesamtschaden seiner Tat betrug laut Anklage nur 2,90 Euro, und das "erhöhte Beförderungsentgelt" von 60 Euro, so betonte Herr K., hatte er den Straßenbahn-Kontrolleuren auch schon gezahlt. Er gestehe alles: "Es war so, wie es die Staatsanwältin gesagt hat", sagte er leise. "Ja, es ist so gewesen."

Als Zuhörer wurde man an diesem Morgen im vergangenen November Zeuge, wie der wegen "Erschleichens von Leistungen" angeklagte Mann aufgefordert wurde, von seinen Drogenproblemen zu erzählen. Von seiner Depression, deretwegen er nur noch zwei Mal pro Woche seine Sozialwohnung verlasse, um zur Drogensubstitution zu fahren. Mit der Straßenbahn. Eine Lebensbeichte, die in der traurigen Aussage gipfelte: "Ich bin müde und habe keinen Saft mehr. Ich bin 45 Jahre alt."

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Das Urteil, im Namen des Volkes: Vier Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung. So ist dieser Prozess ausgegangen - und ob man dies nun für gerecht hält oder auch nicht, jedenfalls billig ist es nicht gewesen. Weil Herr K. nämlich im rumänischen Siebenbürgen geboren wurde, hatte das Gericht noch einen Dolmetscher für Rumänisch bestellt, Kostenpunkt 292,86 Euro - obwohl Herr K. muttersprachlich deutsch spricht. "Glaubt ihr mir denn nicht, dass ich Deutsch kann?", hatte er entgeistert gefragt. Die Gerichtskosten musste er als Verurteilter trotzdem tragen.

Noch nie in seinem Leben hatte Herr K. ein Rechtsmittel eingelegt. Bei all seinen 17 Vorstrafen nicht. Immer hatte er seine Urteile ohne Murren akzeptiert. Selbst wenn da in der Vergangenheit mal scharfe Strafen gegen ihn verhängt wurden, sechs Monate Haft für Beleidigung und Schwarzfahren zum Beispiel. Damals, so erzählt Herr K., verlor er infolge der Strafe seine Wohnung und seine Substitution und musste auf der Straße schlafen.

Jetzt drohte ihm dasselbe wieder. Deshalb bedrängte ihn diesmal seine Bewährungshelferin, er solle unbedingt Berufung einlegen. Die Bewährungshelferin hat seitdem auch einen Verteidiger gefunden, der seinen Fall pro bono übernimmt, denn einen Pflichtverteidiger wollte ihm das Gericht nicht stellen: Am 2. Mai wird nun vor dem Landgericht Mainz über die Berufung verhandelt werden, wegen der Fahrkarte für 2,90 Euro.

Alltag in Deutschland. Fortsetzung folgt.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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