In Deutschland leiden zwischen 0,5 und drei Prozent der Erwachsenen und Kinder an Trichotillomanie, schätzt Niedermeier. Die Erkrankung gehört per Definition zu den Impulskontroll- oder auch Zwangsspektrumsstörungen (Ziffer F63.3 nach dem ICD-10, dem Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation) und unterscheidet sich von Zwangsstörungen wie dem Waschzwang oder dem Kontrollzwang.
Gemeinsam haben all diese Störungen, dass ein Ritual ausgeführt wird, das dazu führt, dass es den Betroffenen besser geht. Der Unterschied ist, dass der Handlung beim zwanghaften Händewaschen eine Befürchtung vorausgeht, beispielsweise, dass die Türklinke bakterienverseucht ist. Solcherart Zwangsgedanken gibt es bei der Trichotillomanie nicht, das Haareausreißen dient allein dem Ziel, dass die Anspannung nachlässt.
Ein dem Haareausreißen ähnliches Verhalten hat womöglich jeder schon bei sich selbst beobachtet. Wer unter Druck steht, raucht noch eine zweite oder dritte Zigarette, isst zu viel Schokolade oder kaut auf den Nägeln. "Und manche reißen sich eben die Haare aus", sagt Niedermeier. "Es mutet zwar selbstverletzend an, hat aber nicht die gleiche Dimension wie etwa das Ritzen, das häufig mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung verbunden ist, die oft als Borderline-Störung bezeichnet wird."
Antonia Peters Mutter bemerkte die kahlen Stellen hinter den Ohren ihrer Tochter irgendwann. Sie befahl ihr, damit aufzuhören. Das schaffte das Mädchen genau drei Tage, dann wurde die innere Unruhe zu groß und sie riss wieder. Als Peters etwa 18 Jahre alt war, kam sie zu der Erkenntnis, dass Hilfe von einem Experten nötig ist. Ihre Mutter reagierte ablehnend. "Sie meinte, wenn sie es geschafft habe, mit dem Rauchen aufzuhören, kann ich auch mit dem Reißen aufhören", erzählt Peters.
Niemand konnte die Erkrankung einordnen
Konnte sie aber nicht. Um die Spuren ihrer Reißattacken zu verbergen, kaufte sie sich Kopftücher und stellte es als "den neuesten Trend" dar. Später setzte sie eine Perücke auf. Ihren Arbeitskollegen im Kindergarten erzählte sie etwas von Hormonproblemen. Mit 24 Jahren lernte sie ihren Freund kennen und offenbarte ihre Störung, die damals noch niemand einordnen konnte. "Wir haben nächtelang geredet. Es war schwer, weil er sich schuldig fühlte", sagt sie. Die junge Frau wandte sich an einen Neurologen, der sie an einen Verhaltenstherapeuten überwies. "Der stellte fest, dass mein Selbstbewusstsein unterentwickelt war. Das haben wir dann zwei Jahre therapiert. Aber nie das Haareausreißen", erzählt Peters.
Eines Tages las ihr Freund in der Zeitung, dass das Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf (UKE) für eine Studie Personen sucht, die sich zwanghaft die Haare ausreißen. Das war 1997. Peters rang sich zu einer Anmeldung durch und nahm an der Studie teil. Eine Gruppe erhielt eine Verhaltenstherapie, einer anderen wurden Medikamente verabreicht. Peters bekam sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, eine Gruppe von Antidepressiva. "Ich verlor die Lust, zu reißen. Ich hatte ganz viel Energie, konnte alles Mögliche anfangen und auch zu Ende bringen", erzählt sie. Allerdings traten Nebenwirkungen auf, die Dosis musste geändert werden.