Alle reden vom Glück. Weil alle glücklich sind? Eher nicht. Und wie geht es den Unglücklichen? Sie leiden gleich dreifach: Erstens sind sie unglücklich. Dann müssen sie sich noch Vorwürfe darüber anhören, dass sie es sind, dass sie sich wohl mutwillig dem Glück verweigern. Schließlich sind sie allzu gerne bereit, sich selbst Vorwürfe zu machen: Vielleicht haben sie ja die vielen Glücksratgeber nicht sorgfältig genug gelesen. So findet ihr Unglücklichsein keinen Platz in ihrem Leben: "Alle Anderen sind doch glücklich", fragen sie sich, "warum ich nicht?"
Weil das Leben eben auch das Unglücklichsein kennt. Es ist meist keine Frage der freien Entscheidung, unglücklich zu sein oder nicht. Es ist auch nicht einfach nur ein fehlerhafter Zustand, der beliebig korrigiert werden könnte. Und so ist es an der Zeit, nicht mehr nur ein Unglück im Unglücklichsein zu sehen: Hat sich schon einmal jemand gefragt, wie es um die Menschheit stünde, wenn in ihrer Geschichte nur Glück und Zufriedenheit geherrscht hätten? Wahrscheinlich säßen wir dann noch immer auf den Bäumen. Manche werden sagen, wäre auch gut so. Aber es ist zu spät für ein Zurück.
Die Fixierung auf das Glück hat in jüngerer Zeit dazu beigetragen, den Wert des Unglücklichseins aus den Augen zu verlieren. Denn auch darin besteht die Stärke der Menschen: Das Unglücklichsein macht sie kreativ. Für viele bedeutet Glück Zufriedenheit, aber die ist wenig schöpferisch. Warum sonst kommen große Ideen und Werke so selten von denen, die schon alles haben?
Das Geschenk der Unglücklichen an die Gesellschaft
Die größten Leistungen der Menschheit sind nicht den Glücklichen und Zufriedenen zu verdanken. Nicht sie haben die Französische Revolution veranstaltet. Auch Beethoven muss man sich nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen. Die wenigsten Werke der Kunst, auch der Technik, entstanden aus Zufriedenheit.
Die Stärke der Unglücklichen ist ihre Sensibilität, ihr Gespür für den Sinn und für dessen Fehlen. Darin besteht ihr Geschenk an die Gesellschaft. Sie wenden sich nicht ab, wenn es Anderen schlecht geht; sie wissen, wie sich das anfühlt. Früher als die Glücklichen bemerken sie eine Gefahr, eine Fehlentwicklung, ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit.
Auch deshalb brach in England, dem Ursprungsland der modernen Vorstellung vom Glück als Lustmaximierung (John Locke, Jeremy Bentham), vor Kurzem eine heftige Debatte in der Times los, als die Nationale Statistikbehörde den aktuellen Happiness-Index publizierte: Es sei eine Zumutung, immerzu von diesem Glück zu hören, England brauche eine Arbeits-Ethik, sonst komme das Land nie mehr auf die Beine. Ein Anderer rühmte das Unglücklichsein, denn es gebe "mehr im Leben als dieses elende Geschäft, glücklich sein zu wollen".
Diese Debatte würde ich mir auch hierzulande wünschen. Es ist ja in Ordnung, dass die Deutschen nach Jahrhunderten der Abstinenz das Glück entdecken. Diese glücksverspätete Nation war zu lange kritiklos gegenüber Arbeit und Pflicht. Heute besteht das Problem eher in der kritiklosen Anbetung von Glück und Lust als gesellschaftlicher Norm.
Es war interessant, im zurückliegenden Jahrzehnt mitzuverfolgen, wie diese neue Norm entstanden ist. Es ist ein historisches Lehrstück: Niemand hat sie verkündet, keine Instanz hat sie verordnet, da waren nur immer mehr Menschen, die das Glück suchten, angeregt und bestärkt von einigen Autoren, die darüber schrieben und es ganz sicher gut mit ihren Mitmenschen meinten.
Was ist Glück? Darüber war in den zurückliegenden Jahren viel zu erfahren. Aber deutlich wurde auch: Das Glück wird überschätzt. Die damit verbundenen Erwartungen sind maßlos und heillos übertrieben. Maßlos, weil es so viel Glück gar nicht geben kann. Heillos, weil so hohe Erwartungen nur noch unglücklich machen können.
Ist noch niemandem aufgefallen, dass die neuen Ideen vom Glück den alten christlichen Vorstellungen vom ewigen Heil sehr ähnlich sehen? Niemand weiß, ob das im Jenseits funktioniert. Im Diesseits aber ganz sicher nicht, denn Menschen sind nun mal keine Götter.
Die Leute wollen ihre Ruhe haben
Die Flucht ins Glück ist verständlich: Die Leute wollen ihre Ruhe haben. Sie wollen sich eine Insel im Meer stürmischer Veränderungen schaffen. Sie wollen nichts mehr wissen von der Verruchtheit dieser Welt. Glück ist die Verlegenheit, die entsteht, wenn es keine größeren Ziele im Leben und in der Gesellschaft mehr gibt.
Was könnten Ziele über das Glück hinaus sein? Beispielsweise ein umgänglicher Mensch zu werden. An einer sozialen und ökologischen Gesellschaft zu arbeiten. Sich mit für die Weiterentwicklung des Lebens einzusetzen.
Glück an sich ist kein erstrebenswertes Ziel. Es ist schön, wenn es uns gelegentlich berührt wie ein Hauch. Aber wenn es zu lange anhält, macht es träge - und wir richten uns in einer Zufriedenheit ein, die uns auf Dauer nicht guttut.
Das Andere des Glücks, manchmal auch das andere Glück, ist das Unglücklichsein. Seine am meisten verbreitete Form ist die Melancholie. Das ist kein krankhafter Zustand, sondern eine Art und Weise des menschlichen Seins, die wesentlich zur Existenz des Menschen gehört. Melancholie - das ist ein Zustand von übergroßer Sensibilität, mit sehr bewegten Gefühlen und Gedanken. Melancholie ist die Seinsweise einer Seele, die schmerzen und sich ängstigen kann.
Melancholiker denken über alles nach, daher sind seit jeher so viele Philosophen und Künstler unter ihnen zu finden. Gerade ihr tragisches Bewusstsein entspricht dem Leben womöglich mehr als jede törichte Leugnung von Tragik. Es gibt daran nichts zu heilen, eher ist diese Seite des Menschseins zu pflegen.
Etwas Anderes als diese Form der Traurigkeit ist die Krankheit der Depression, die unüberwindbare Niedergedrücktheit, gekennzeichnet von erstarrten Gefühlen, vom Unwillen und von wirklicher Unfähigkeit zur Reflexion. Der Betroffene findet aus dem engen Zirkel seiner Gedankenbewegungen nicht mehr heraus. Er kann sich selbst nicht mehr helfen, oft kann er sogar einfachste Tätigkeiten nicht mehr verrichten. Er ist auf Menschen angewiesen, die mit seinem Einverständnis Verantwortung für ihn übernehmen, Angehörige und Freunde, die ihn jetzt nicht verlassen, Therapeuten, die ihn betreuen, und Ärzte, die sich nach den aktuellen Regeln der Kunst um ihn bemühen.
Über das Glücklichsein ist fürs Erste alles gesagt. Jetzt geht es darum, sich mit demselben Interesse dem Unglücklichsein zuzuwenden. Die wahre Herausforderung des Lebens ist nicht das Glück. Glücklich sein kann im Prinzip jeder. Für den Umgang mit den Schattenseiten des Glücks gilt das nicht.
Wilhelm Schmid, 59, stammt aus Bayerisch-Schwaben und lebt als freier Philosoph in Berlin. Er hat Bücher über die Liebe und übers Glück geschrieben - und nun eins über Unglücklichsein.