Karaoke:"Musik muss durch den Körper durch"

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Manche schreiben auch eine Mail an Jens Junker. Der ist Leiter des Münchner Kneipenchors - und Verwalter einer 200 Namen langen Warteliste. Kneipenchor, das ist ziemlich genau das, wonach es klingt: musikliebende Menschen treffen sich in ungezwungenem Rahmen und studieren gemeinsam Lieder ein, meist Popsongs oder Indie-Klassiker. Junker probt mit seinem 50 Stimmen starken Chor gerade "Ace of Spades" von Motörhead, nicht gerade das feinsinnigste Werk der Musikgeschichte. Halb München rennt ihm die Bude ein, zur Zeit nimmt der Chor niemanden mehr auf.

Auch in anderen Städten ist der Trend angekommen. In Hamburg singt der Kneipenchor "Wannabe" von den Spice Girls, der Berliner Kneipenchor durfte gar einen Song mit Bosse aufnehmen. Der schönste Moment ist immer der, wenn ein mehrstimmiger Akkord zum ersten Mal gemeinsam klingt, sagt Jens Junker. Die Kneipenchor-Sänger sind meist Akademiker zwischen 25 und 35, Menschen, die sich von der Musik mitreißen lassen und ihr Hipster-Singkreis-Image ironisch pflegen. Fast schon erstaunlich, dass es Kneipenchöre nicht schon viel länger gibt.

"Da findet eine Humanisierung des Singens statt, da werden Schwellenängste abgebaut, das ist doch großartig", sagt Musikphysiologe Altenmüller. Das gilt seiner Meinung nach sowohl für Kneipenchöre als auch für Sing Alongs und andere Formen, bei denen man sich nicht vor Bewertungen fürchten muss. Überhaupt: Es muss wieder mehr gesungen werden! Auch allein. Das nämlich sei etwas komplett anderes. "Singen ist in unserer Kultur stark mit Scham verbunden. Allein zu singen, sich mit der Stimme zu exponieren, ist für viele ein furchterregender Gedanke." Die Stimme verrate zu viel über die Persönlichkeit eines Menschen, Jugendliche sehen sie gar als eine Art Geschlechtsorgan. In der Gruppe aber taucht der Einzelne unter und schafft dennoch etwas, das größer ist als er selbst.

Das funktioniert auch bei "Grease": Je lauter der Sitznachbar singt, desto mehr traut man sich selbst. Und irgendwann singt der ganze Saal. In den USA, in Australien und Großbritannien sind Sing Alongs schon lang der Renner, im Internet findet man Aufzeichnungen karnevalesker Zustände bei Vorführungen von "Dirty Dancing", "Moulin Rouge" und "The Sound of Music". Entfesselte Alltagssänger, die "The Hills Are Alive", jauchzen. Johnny und Baby tanzen auf und vor der Leinwand. Dass keiner auf seinem Platz sitzt, ist eh klar. Da ist bei "Grease" im Mathäser wohl noch Luft nach oben - aber beim nächsten Mal klappt es sicher schon viel besser.

Zu den Kneipenchören kommen Menschen, die oft nicht wissen, was der Unterschied zwischen einer Alt- und einer Sopranstimme ist. Zum Sing Along kommen Menschen, die sich nicht dafür interessieren, dass es Alt- und Sopranstimmen überhaupt gibt. Angetrieben sind sie alle von der Freude am gemeinsamen Klingen. "Musik muss durch den Körper durch", sagt Sandy 1 nach Ende der Vorstellung mit erhitzt glänzenden rosa Wangen.

Und wie fühlt sich das jetzt an? Sandy 1 zögert keine Sekunde: "befreiend!"

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