Gentrifizierung:Bürgerinitiative kämpft für Verbleib von Aldi-Filiale

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Manche Anwohner nervt der Rummel, sie demonstrierten dafür, dass die Aldi-Filiale in der Halle bleibt. (Foto: Carsten Thesing/Imago)
  • In der Markthalle Neun bieten Händler Lebensmittel von gehobener Qualität an.
  • Zur Halle gehört seit 42 Jahren auch eine Aldi-Filiale. Die soll jetzt ausziehen, weil sie nicht mehr ins Konzept passt und den Händler Konkurrenz macht.
  • Eine Bürgerinitiative kämpft nun für den Verbleib des Discounters.
  • Im Zentrum des Konflikts steht die Frage: Was darf - oder sollte - Essen kosten?

Von Marten Rolff, Berlin

Berlin-Kreuzberg war in Streitfragen noch nie zimperlich, doch diesmal liegt die Erregungsschwelle besonders niedrig. Wie niedrig, wird schon klar, als man sich am Telefon mit Florian Niedermeier verabredet. Als er nach kaum 30 Sekunden das erste Mal "Aldi" sagt, legt er eine Kunstpause ein. "Sie merken, ich kann diesen Namen in den Mund nehmen, ohne mich dabei erbrechen zu müssen, das glaubt mir ja keiner", ruft er in den Hörer. Niedermeier, 51, ist einer von drei Geschäftsführern der "Markthalle Neun" in Kreuzberg. Ein Gründerzeitbau aus Ziegeln und blauen Trägersäulen. Auf 2600 Quadratmetern bieten Händler hier Lebensmittel von gehobener Qualität an, Gemüse, Fleisch, Brot, auch schwäbische Maultaschen oder Wein; Freitag und Samstag gibt es einen Wochenmarkt. Zur Halle gehört seit 42 Jahren auch eine gut besuchte Aldi-Filiale. Die soll jetzt ausziehen, weil sie nicht mehr ins Konzept passt und den Händlern Konkurrenz macht. Niedermeier hat dem Discounter zum 31. Juli gekündigt, vertragsgerecht. Gemessen an dem Ärger, den er deshalb mit den Anwohnern hat, klingt er eine Spur zu aufgeräumt.

Seit zwei Monaten ist Krieg im Kiez, der Markthallenchef sagt, er rede über nichts anderes mehr. Bereits 2011 hat er die Halle übernommen, "aber in den letzten acht Wochen habe ich mehr Interviews gegeben als in den acht Jahren davor." Wenn Niedermeier gelassen wirkt, dann vielleicht auch, weil er ahnt, dass er diesen Kampf nur mit Freundlichkeit gewinnen kann.

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Es ist einer dieser seltsamen Konflikte, in denen jeder das Gute will, aber ständig nur Schlechtes dabei herauszukommen scheint. Es ist ja kompliziert geworden mit den Frontlinien in der Gesellschaft. Alte Gewissheiten und Allianzen gelten immer weniger. Vor ein paar Jahren waren die Gegner im Kiez noch einfacher auszumachen, da waren Steine gegen den Einzug der ersten McDonald's-Filiale im Viertel geflogen. Und nun? Trifft man in der alten Hochburg der linken Szene plötzlich auf Pro-Aldi-Protestler, die ungläubig sagen: "Ich hätte nie gedacht, dass ich mal für einen Konzern auf die Straße gehe!" Als wären sie auf einer Demo gegen Donald Trump, und unterwegs flöge auf, dass auch Kim Jong-un mitmarschiert.

Ein Discounter zieht also aus einer Halle aus, und Kreuzberg kommt mies drauf? Das allein erklärt noch nicht, warum sogar britische Zeitungen plötzlich Sozialreportagen über die Markthalle drucken. Warum Vertreter von Bürgerinitiativen stöhnen: "Schon wieder hat ein Fernsehteam angerufen, ich weiß gar nicht, wie ich den Dreh unterbringe!" Kreuzberg spielt mal wieder Gesellschaftslabor. Die Markthalle wirkt da wie ein Brennglas für das Reizthema Gentrifizierung. Und im Zentrum steht eine nur vermeintlich banale Frage: Was darf - oder sollte - Essen kosten?

Wenn du gegen den Kapitalismus bist, dann kannst du nicht für Aldi sein

In der Markthalle sind die Antworten darauf extrem, sie drücken sich in Preisen aus. Da ist das Kilo "Superseed-Bread" in der Auslage der "Biobäckerei Endorphina", das 14 Euro kostet, während die Aldi-Filiale einige Meter weiter für ein Kilo Mehrkornbrot der Sorte "Weltmeister" 1,98 Euro verlangt. Was eigentlich ja weder neu wäre noch ein Problem. Doch in diesem Streit geht es nicht mehr allein ums Geld, sondern auch darum, welcher der beiden Preise "der gute" ist, der moralisch vertretbare. Als "Luxus Food Porn" geißeln die Gründer der Bürgerinitiative "Aldi bleibt" die Auslagen vieler Händler in der Halle. Und Florian Niedermeiers Urteil zu den Preisen des Discounters fällt ähnlich kompakt aus: "Abgefahren pervers!"

Der Markthallenchef ist ein Mann, dessen sanftes Auftreten im verwirrenden Gegensatz steht zum Schraubstockhändedruck und zu 1,97 Metern Körpergröße. Niedermeier wartet schon in der Halle. Es geht vorbei am Uckermärker Hofladen, dem Nudelhandwerker "Mani in Pasta" oder an der Werbetafel für den "Frühlingsgefühle-Burger" der Metzgerei "Kumpel und Keule" - mit Roastbeef, Spargelsalat und Bärlauchmayo. Es ist Donnerstagnachmittag, die Halle rüstet sich für den "Streetfood Thursday", bei dem sorgfältig kuratierte Köche Gerichte aus aller Welt anbieten. Der Streetfood-Markt ist schon lange eine feste Größe im Berlin-Marketing, das Geschäft mit dem Foodtourismus boomt. Die Szene wird immer internationaler. Englischkenntnisse sind in vielen Cafés der Stadt heute für eine Bestellung von Vorteil.

Der wöchentliche Streetfood-Abend in der "Markthalle Neun" ist eine feste Größe im Berlin-Marketing. (Foto: Mauritius)

Niedermeier betont, dass es in der Halle um "gute Lebensmittel" gehe, "nicht um eine Fressmeile"; er ist stolz darauf, was sie hier in acht Jahren aufgebaut haben. 467 Arbeitsplätze hängen heute an der Halle. Vor zehn Jahren hatte die Stadt sie an einen Großinvestor verkaufen wollen; nach einem "Protestkaffeetrinken" der Anwohner gab man den Plan auf und entschied sich für ein Bieterverfahren. Niedermeier, ein Kulturwissenschaftler, der sich immer für Essen interessiert hat und früher ein Deli in Prenzlauer Berg führte, legte das überzeugendste Konzept vor und bekam den Zuschlag, für 1,15 Millionen Euro. Eine "Halle für alle" sollte es werden - ein bejubelter Plan, den man ihm nun um die Ohren haut.

Neuer Mieter der Aldi-Filiale in der Markthalle wird "dm". "Die Kette passt mit ihrem anthroposophischen Ansatz besser zu uns, außerdem gibt es keinen Drogeriemarkt im Viertel", sagt Niedermeier. Der Widerstand hat ihn "völlig überrascht". Ende März demonstrierten 350 Anwohner gegen "Yuppisierung von Ackerfrüchten", Aldis Auszug gefährde die Versorgung im Kiez, den ärmere Leute sich immer weniger leisten könnten. Seither ist der Discounter überall Thema, in der Bezirksverordnetenversammlung, beim Seniorencafé der Gemeinde, bei der Fußpflege und vor allem: im Netz. Für Juni plant die Bürgerinitiative eine zweite Kundgebung.

Wer sich einmischt in diesen Streit, könne eigentlich nur verlieren, sagt ein Marktverkäufer: "Ich äußere mich nicht zu Aldi. Entweder ich pinkle meinem Arbeitgeber in den Schuh oder den Leuten."

Florian Niedermeier findet es "absurd", dass die Anwohner sich ausgerechnet für einen Discounter einsetzen, der die Wertschöpfungskette missachte, Bauern und Konkurrenten unter Druck setze und Lebensmittel zu Kampfpreisen anbiete, zu denen sie gar nicht produzierbar seien. Er referiert über verarmte Milchbauern, Qualfleisch und ausgelaugte Böden. Er erzählt von einer Spreewaldbäuerin, die für ein Kilo Kartoffeln auf seinem Markt zwei Euro verlange, doppelt so viel wie Aldi für Biokartoffeln, und der trotzdem das Geld fehle, ihr Scheunendach zu reparieren.

Eine Studentin hat Kunden in der Markthalle zu ihrem Monatsgehalt befragt, von 500 bis 5000 Euro sei alles "ziemlich gleichmäßig verteilt". Es gibt einen Stand, der die Preise nach dem Einkommen der Kunden berechnet; es gibt Kinderflohmärkte, Weihnachtsgottesdienste und Anwohneressen. Doch am Ende kann auch Niedermeier die Wohlstandsblase nicht wegdiskutieren. Nicht den gereiften Emmentaler zu 3,70 Euro für 100 Gramm und nicht die Eiskugel mit karamellisiertem schwarzen Sesamcrunch zu 1,80 Euro. Die Markthalle ist damit eine schwierige Kulisse für Pädagogik. Niedermeier erklärt den Leuten gern: Wenn man kochen kann, lässt sich aus guten Produkten selbst mit wenig Geld viel machen. Er gibt aber auch zu, dass man mit solchen Sätzen Gefahr läuft, wie Marie Antoinette zu klingen: Wenn das Volk kein Brot hat, dann soll es doch Quinoa-Cronuts fressen.

Um das Volk selbst zu fragen, muss man nur die Straßenseite wechseln. Im Café Jannimu ist wöchentlich Lagebesprechung der Initiative "Aldi bleibt". Ins Leben gerufen hat sie die Filmemacherin Stefanie Köhne, die seit 30 Jahren im Viertel wohnt. Köhne ist eine freundliche Frau, die sich in Rage reden kann. Sie engagiert sich, weil sie vor dem Aushang, der den Drogeriemarkt ankündigte, "die Hilflosigkeit der Leute gespürt" habe. Man hört Begriffe wie "praktische Solidarität", "Respekt" oder "positive Utopie", die in dem Kiez gelebt werde. Und immer wieder geht es um "die Grundversorgung", die in der Halle gewährleistet sein müsse. Was das bedeutet, welche Preise angemessen sind, was eine "Halle für alle" leisten sollte, kann keiner genau erklären. Aber so, wie Köhne "Grundversorgung" sagt, klingt es nach Krieg oder Belagerung. Dass 200 Meter weiter die nächste Lidl-Filiale liegt, irritiert sie nicht weiter.

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Kann es sein, dass die Diskussion über Ungleichheit richtig ist, dass man sie aber am falschen Thema aufhängt - einem Supermarkt? Köhne sieht da keinerlei Widerspruch: "Niemand will einen Discounter verteidigen, der Milliardären gehört", ruft sie. Das sei Zufall. "Ich will nicht lesen, dass wir hier für den Antichrist kämpfen." Die Bürgerinitiative hat schon neue Ziele: "Wir wollen, dass die Halle rekommunalisiert wird." Eine Forderung, von der die grüne Bezirksbürgermeisterin sagt, sie entbehre jeglicher Rechtsgrundlage.

Es ist kaum hilfreich, dass die Lebenswelten, die hier aufeinander prallen, vor Klischees nur so strotzen. Zille gegen Hipster. Wer durch die Markthalle schlendert, braucht keine fünf Minuten, um persönliche Vorurteile zu bedienen. Da ist der Bio-Skeptiker, dem es "egal ist, ob irgendein Zausel den Hühnern auf der Blockflöte vorbläst". Oder der Student, der "wenig Geld" hat, Lebensmittelethik aber wichtig findet. Da ist das Ehepaar mit 780 Euro Rente, das "auf Sonderangebote bei Aldi angewiesen" ist. Oder die Touristin, die Zimtschnecken "amazing" findet und den Stand mit dem Spreewaldgemüse als Selfie-Hintergrund nutzt. Und da ist auch die junge Mutter, die "Wert auf gesundes Essen" legt und fragt: "Wer bitte will denn das alte Kreuzberg zurück? All den Dreck und die Fixer?"

Während sich in der Markthalle die Emotionen hochschaukeln, segelt als Einziger ruhig unterm Radar: Aldi. Warum einmischen in einen Streit, in dem es läuft wie geschnitten Goldähren-Toast? In dem die Konkurrenz die Bodenhaftung verliert und Bürgerinitiativen das Marketing schmeißen? Fragen bearbeitet der Konzern nur schriftlich. In der höflichen Antwort ist oft von Kundenbindung die Rede: "Wir freuen uns über das Engagement unserer Kunden für ihren Aldi-Markt in Kreuzberg." Das zeige, dass die sich "bei uns wohlfühlen". Im Weiteren geht es viel um zertifizierte Nachhaltigkeitsstandards, Qualität, Gesundheit, Menschenrechte oder Verantwortungsethik. Nun könnte man ironisch fragen: Wenn Aldi so viel Gutes tut, wieso redet der Konzern dann nie offen darüber?

Eine einfache Antwort ist: Solange man den Kunden beim Portemonnaie hat, ist alles andere Nebensache. 84 Prozent der Deutschen kaufen beim Discounter. Wie sehr die Billigpreise verinnerlicht wurden, sieht man beim Aldi-Konkurrenten Lidl, der sich gerade um einen Imagewechsel zu "Deutschlands nachhaltigstem Discounter" bemüht und eine viel beachtete Kooperation mit Bioland beschlossen hat. Wie es heißt, zu Bedingungen des Bioverbandes. Diese Woche verabschiedete Lidl sich dann von dem Plan, nur noch Fairtrade-Bananen zu verkaufen. Der Kunde war doch nicht bereit, mehr zu bezahlen. Die kolumbianischen Bauern, die für den Bananendeal umgerüstet hatten, dürfen nun sehen, wie sie klarkommen.

Solidarität, das zeigt der Zoff um die Markthalle, ist verdammt komplex geworden

In Kreuzberg sinniert Florian Niedermeier angesichts der Kritik an den edlen Röstungen im neuen Markthallencafé: "Wir haben uns vielleicht manchmal zu sehr auf die Bedürfnisse der Kaffeebauern in Lateinamerika konzentriert und die Nachbarschaft aus dem Blick verloren. Darauf müssen wir jetzt Antworten finden." Solidarität ist verdammt komplex geworden.

Der Protest hat Hallenchef Florian Niedermeier verunsichert. (Foto: Markthalle Neun)

Doch wie viel Gemeinschaft braucht eine Gesellschaft, wie viel Nebeneinander verträgt sie? Um das zu beantworten, geht man am besten in die Mitte der Markthalle, wo Inge Wruck, ihr Alter verrät sie nicht, seit 1989 ein Bistro-Büdchen betreibt. Der Kaffee kostet bei ihr 1,50 Euro, die Bockwurst zwei Euro. Keiner ist länger hier als sie, ihr Fazit aus 30 Jahren: Zeiten ändern sich, und Zusammenhalt war hier immer wenig, vor allem, wenn es ums Geld ging.

Am vollsten sei es vor der Wende gewesen, erzählt Wruck, aber dann sei "was Komisches" passiert: In den Neunzigern rannten die Leute alle in die neuen Einkaufszentren im nahen Berliner Osten, um sich billig einzudecken. Die Halle verödete. Als man die Leute dann vor acht Jahren fragte, welches Konzept sie für die Markthalle wollten, "da wünschten die sich all die Läden zurück, die sie selbst mit kaputt gemacht hatten, weil sie da nicht mehr einkauften: Metzger und Kurzwarenhändler." Wruck ist dafür, dass Aldi bleibt, "auch weil ich Sorge habe, meine Kunden zu verlieren". Sie kennt die Egoismen. Als sie den Kaffee mal um zehn Cent verteuerte, hieß es: "Was fällt dir ein, du Fotze, wir trinken jetzt woanders." Und seit sie auf der Hallenversammlung für Aldi gestimmt hat, "reden vier Händler nicht mehr mit mir."

Die Diskussion darüber, was Essen kosten sollte, hat gerade erst begonnen - Klimawandel, kaputte Landwirtschaft, wachsende Ungleichheit ... Im Labor Kreuzberg kann man schon mal lernen. Ob Besseresser oder Billigheimer, Altlinker oder Neureicher, ob Hipster oder Hartz-IV-Empfänger: Man schenkt sich keinen Zentimeter.

© SZ vom 25.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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