Weihnachten ist die Zeit der Entschleunigungs-Apostel, schrieb eine Kollegin vor wenigen Tagen und forderte: Hört auf zu meckern, nutzt die Chancen des Fortschritts und entspannt euch doch mal ein paar Tage über Weihnachten. Ein guter Rat! Aber nun sind die Feiertage vorbei und trotz der guten Vorsätze hat man sich wieder einmal nicht entspannt. Stattdessen hat man oft die Frage gehört: Na, wie geht's so? Und man hat sich und andere erstaunlich häufig antworten hören: Eigentlich ganz gut, aber die vergangenen Wochen waren ziemlich stressig.
"Gerade ziemlich stressig" scheint zum Grundgefühl unseres Lebens geworden zu sein. Die Mitarbeiter des Bundesamtes für Arbeitsschutz schreiben in ihrem "Stressreport", dass jeder zweite Arbeitnehmer über starken Termin- und Leistungsdruck klagt, jeder fünfte fühlt sich sogar regelmäßig von seiner Arbeit überfordert. In einer Studie der Techniker Krankenkasse gaben sogar sechs von zehn Befragten an, ihr Leben sei stressig. Jeder dritte Berufstätige fühlte sich ausgebrannt. Wer sich über Entschleunigung-Apostel lustig macht, verkennt also ein recht offenbares Problem, das nicht nur eine kleine Elite trifft.
Aber Moment, die Kollegin hat ja Recht: Wir leben länger, wir können schneller reisen, schneller kommunizieren. Kurzum: Wir haben mehr Möglichkeiten und Freiräume als je zuvor. Warum nutzen wir sie nicht? Warum fühlen sich so viele von uns stattdessen rastlos und gestresst? Und wir Deutschen leben im Vergleich zu Amerikanern oder gar Asiaten ja nun wirklich gemächlich. Meckern wir einfach nur gern?
Dass wir uns diese Fragen überhaupt stellen, hat viel mit einer tückischen Eigenschaft von Zeit zu tun: Sie lässt sich wunderbar messen. Das suggeriert, Zeit sei etwas objektives, unveränderliches. Das ist ein Trugschluss. Zeit wird von einer Gesellschaft gemacht, das hat der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch über "Beschleunigung" sehr anschaulich gezeigt. Wir erleben Zeit als Zwang in Form von Terminkalendern und Deadlines.
Wie gewonnen, so zerronnen
Es stimmt, der technische Fortschritt spart uns im ersten Moment Zeit. Aber jeder, der sich einmal ein Smartphone angeschafft hat, weiß: Hat man anfangs mehr Zeit, weil man die Mails direkt unterwegs bearbeiten kann, schreibt man irgendwann unverhältnismäßig viel mehr und hat die gewonnene Zeit wieder verloren. Und am Ende wird gar erwartet, dass man sich der Geschwindigkeit der neuen Technik anpasst. War es früher in Ordnung, einmal am Tag die Post zu bearbeiten, gilt es heute als selbstverständlich, dass Mails in Minuten beantwortet werden.
Soll man neue Technik deswegen nun aber verteufeln? Nein. Es gehört zum Wesen unseres Wirtschaftssystems, dass die Welt schneller wird. Wachstum beruht auf Beschleunigung: Die Produktivitität zu erhöhen heißt, in der gleichen Zeit mit der gleichen Zahl von Menschen mehr zu produzieren. Anders ausgedrückt: Das gleiche in weniger Zeit produzieren. Wer eine entschleunigte Gesellschaft fordert, fordert eine Abkehr von der Marktwirtschaft, auch da hat die Kollegin recht - und trifft doch nicht den Kern.