Beschleunigung:Schöne, schnelle Welt

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Run, Santa, run: Weihnachtsmänner laufen beim 'Santa Run' durch Hannover. (Foto: dpa)

Was die vorweihnachtlichen Entschleunigungs-Apostel fordern, ist eine Anmaßung und führt zurück in die typisch deutsche Gemütlichkeit. Alles, was uns voranbringt, setzt aber Energie und Bewegung voraus. Wir brauchen Beschleunigung statt Entschleunigung.

Ein Kommentar von Kathrin Werner

Weihnachten ist die Zeit der Entschleunigungs-Apostel. Jetzt werden sie wieder meckern, wenn die Teenager-Töchter unterm Christbaum SMS tippen. Sie werden seufzen, dass Geschenkekaufen von Jahr zu Jahr stressiger wird, weil immer weniger Zeit ist. Sie werden ihre E-Mails lesen und gleichzeitig klagen über die ständige Erreichbarkeit. Sie werden Besinnlichkeit vermissen. Kinder, wie die Zeit vergeht, und früher war alles besser!

Ja, das Leben mag sich schneller anfühlen. Wie schon immer hat technischer Fortschritt dazu geführt: das Rad, die Dampfmaschine, das Auto, das Flugzeug, das Internet, das Handy. Und immer gab es Leute, die dagegen waren. Hinter dem ewigen Meckern über die Beschleunigung des Lebens steckt ein diffuses Gefühl der Unbehaglichkeit, in dem sich Technikskepsis, Fortschrittsfeindlichkeit und Kapitalismuskritik vermengen.

Es ist typisch deutsch. Das Land fläzt sich in die Mitte Europas, Angela Merkel ist schon wieder Kanzlerin, und am liebsten haben wir es gemütlich. Erfindungen, Unternehmensgründungen, aufregende Architektur, Kunst, Theater, Literatur entstehen aber nicht aus Gemütlichkeit. Sondern, wenn Menschen etwas erleben, ihren Wohlfühlbereich verlassen. Sie entstehen zu selten in Deutschland. Für alles, was uns voranbringt, brauchen wir Energie. Energie ist Bewegung. Wir brauchen Beschleunigung statt Entschleunigung.

Entschleunigung wäre Abkehr von der Marktwirtschaft

Ohne Beschleunigung gibt es kein Wachstum. Und ohne Wachstum ist unsere Volkswirtschaft nicht stabil. Weil es ständig neue Technik gibt, werden Unternehmen immer produktiver, sie brauchen weniger Mitarbeiter für die gleiche Arbeit. Deshalb müssen sie wachsen - sonst werden Menschen arbeitslos. Eine entschleunigte Gesellschaft kann nur fordern, wer sich gleichzeitig von der Marktwirtschaft abkehrt.

Deutschland ist noch nicht einmal besonders schnell. Selbst in Berlin stehen die Menschen rechts auf den Rolltreppen, die sie bequem nach oben oder unten fahren. In New York machen das nur Touristen, alle anderen drängen links vorbei. Die Deutschen warten vor roten Fußgängerampeln, auch wenn kein Auto kommt. Die Geschäfte haben sonntags zu, die U-Bahnen fahren nur selten nachts. Und das Bundesurlaubsgesetz gewährt uns mindestens 24 Urlaubstage. In Asien oder Amerika ist das undenkbar.

Auch der Erreichbarkeits-Zwang trifft für große Teile der Bevölkerung gar nicht zu, die Frau hinter der Wursttheke zum Beispiel oder der Lehrer werden nicht des Nachts zum Sondereinsatz gerufen. Die Klagen der Dauer-Erreichbaren sind oft Wichtigtuerei und so elitär wie ihr Gegenmittel, die Ayurveda-Kloster-Turborelaxing-Kurzurlaube.

Hinter all den Plädoyers für die Entschleunigung steckt eine Anmaßung: der Gedanke, dass es nur ein richtiges Lebenstempo gibt. Dabei ist Zeitempfinden von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Wer kennt nicht das Gefühl, dass Ereignisse sich gleichzeitig anfühlen, als lägen sie ewig zurück und als seien sie eben erst geschehen? Weihnachten war doch gerade - und gleichzeitig ist in der Zwischenzeit so viel passiert. Wir haben uns ewig nicht gesehen - und trotzdem fühlt es sich vertraut an. Was ist schon Zeit?

Technischer Fortschritt schafft Freiräume

Zunächst ist sie eine physikalische Größe. Sie wird bestimmt vom Lauf der Sonne, vom Wechsel der Jahreszeiten. Das Bureau International de l'Heure in Paris legt die Internationale Atomzeit fest. Für den Menschen, der Zeit fühlt, ist das aber zu abstrakt. Der Schweizer Dichter Gottfried Keller schreibt über die Zeit: "Ein Etwas, form- und farbenlos / Das nur Gestalt gewinnt / Wo ihr drin auf und nieder taucht / Bis wieder ihr zerrinnt."

Es gibt keine objektive Beschleunigung oder Entschleunigung, es gibt nur unser gegenwärtiges Erleben. Ältere Menschen empfinden das Leben als schneller, weil sie weniger Neues lernen. Deshalb müsste man nicht nur zum Wohl der Gesellschaft, sondern auch des Einzelnen raten: Beweg dich schneller, weil das Erinnerungen schafft, die das Leben intensiver wirken lassen. Auch der Fortschritt der Technik, den die Entschleunigungs-Apostel beklagen, ist paradox: Er bringt nicht nur gefühlte Schnelligkeit sondern auch mehr Zeit: Wir leben länger. Wir können uns Informationen leichter besorgen. Das schafft Freiräume.

Die Beschleunigung lässt sich auch als Chance begreifen. Sie muss nicht zu Rastlosigkeit und Oberflächlichkeit führen, wenn wir die gewonnene Zeit nutzen. Der Einzelne darf sich Muße gönnen, und Weihnachten ist die Zeit dafür. In den nächsten Tagen wird die subjektive Zeit langsamer laufen. Und danach sollten wir weniger meckern und uns im Takt drehen mit der schönen, schnellen Welt.

© SZ vom 24.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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