Leben in Megacitys:Wie die Hühner im Massenkäfig

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Immer mehr Menschen leben auf immer engerem Raum zusammen. Doch die Verstädterung der Welt ist nur teilweise positiv: Manchen macht die fehlende Distanz zu den lieben und nicht so lieben Mitmenschen krank.

Gerhard Matzig

"Das Zusammenleben von Menschen verursacht Stress durch Begegnungen und Aggressionen. Mit zunehmender Dichte wird der Stress größer, bis bei manchen Menschen Verhaltensänderungen, Unfruchtbarkeit oder gar der Tod eintritt." Das Zitat stammt aus einer Beschreibung von "sozialem Stress", den man auch als "Gedrängefaktor" in hoch verdichteten Lebensräumen kennt.

Schuhschachtel über Schuhschachtel: Leben auf engstem Raum ist in asiatischen Großstädten Alltag (Foto aus dem chinesischen Chongqing). (Foto: AP)

Mit einem kleinen Unterschied: Die Autoren sprechen von Tieren, gemeint sind zum Beispiel Hühner, und nicht von Menschen.

Wucherndes Wachstum der Städte

Aber abgesehen davon, dass man sich fragen kann, warum die Hühner ein schlechteres Leben haben sollten als die Menschen: Auch für uns werden eines Tages die Erkenntnisse der Populationsdynamik relevant werden. Mancherorts, etwa in den immer öfter anzutreffenden Megacitys, gilt: Sie sind es schon.

Der Urbanist Richard Burdett sagt: "Jeder, der bei Sinnen ist, gibt zu, dass kein Weg an der Verdichtung vorbeiführt." Global, historisch und ökologisch betrachtet: Burdett hat recht. Um 1900 lebten zehn Prozent der Erdbevölkerung in Städten, heute sind es mehr als 50 Prozent, in absehbarer Zeit werden es laut UN-Berechnungen 75 Prozent sein.

Was wir derzeit erleben, ist folglich die Verstädterung der Welt. In einer 10-Millionen-Metropole kommt pro Minute ein Stadtbewohner hinzu. Der Großraum Tokio beherbergt bereits 36 Millionen Einwohner. Manche Nation ist bedeutend kleiner als diese unfassbare Stadt.

Woher rührt das wuchernde Wachstum der Städte? Die urbanen Zentren sind als sogenannte World Citys eine direkte Folge der Globalisierung. Diese Städte sind die Schaltstellen und postindustriellen Job-Motoren der weltweit miteinander verflochtenen Ökonomien. In einigen der größten und vitalsten Städte hat sich die Bevölkerung daher in nur 25 Jahren mehr als verdoppelt. Und ein Ende dieser Schubkraft ist nicht abzusehen.

Alle Prognosen für die Entwicklung der städtischen Bevölkerung gehen steil nach oben. Das gilt nicht allein für Afrika, Lateinamerika oder Asien - sondern selbst dort, wo die Bevölkerung schrumpft. Auch in Deutschland hat die Binnenmigration eine eindeutige Richtung: weg vom Land und weg von den Dörfern - hin zur Stadt und hin zu den Zentren. Der Trend dürfte unumkehrbar sein, was man aus ökologischen Gründen nur begrüßen kann.

Der relative Pro-Kopf-Anteil am Kohlendioxid-Desaster ist im hoch verdichteten Hongkong beispielsweise sehr viel geringer als im idyllisch gelegenen Starnberg vor den Toren Münchens. Der Stadt New York mit ihrem gut funktionierenden öffentlichen Nahverkehr inmitten der dicht, also energieeffizient organisierten Arbeits- und Wohnwelten gebührt angesichts so mancher Vorort-Pendlerhochburg deutscher Bauart die Auszeichnung mit dem blauen Öko-Engel.

"Verdichtung" will gelernt sein

Was aber in ökologischer Hinsicht zu fördern wäre, kann in sozialer Hinsicht zu gewaltigen Verwerfungen führen: Das auf kleinstem Raum verdichtete Leben ist eine Frage der kulturellen Anpassung. "Verdichtung" will gelernt sein - gerade in einer Zeit, da zusammen mit den fossilen Ressourcen auch dieser letzte große Luxus zur Neige geht: die Möglichkeit räumlicher Distanz zu den lieben und manchmal auch nicht so lieben Mitmenschen.

Die Agora- und die Klaustrophobie breiten sich schon jetzt aus - als Zivilisationsängste, die der Verstädterung entsprechen. Das eine ist die Angst vor einer großen Menschenmenge, die sich beispielsweise auf einem weiten Platz (griechisch: agora) versammelt; das andere ist die Angst vor kleinen, verschlossenen Räumen. Das lateinische claustrum meint den Käfig.

Mit Blick auf die entstehenden Megacitys muss man leider feststellen: Die Zukunft wird sowohl aus Käfigen in Form kleiner, stapelbarer Wohnungen in Türmen bestehen - sowie aus großen Plätzen und Verkehrsschneisen.

Für Menschen, die an der einen oder anderen Phobie laborieren, sind das eher düstere Aussichten. Weltweit leiden schon jetzt etwa 100 Millionen Menschen an Platzangst. Noch viel mehr Menschen erdulden Atemnot, Herzrasen und Panikattacken: Das sind einige der Symptome, die eine Klaustrophobie anzeigen.

Allerdings lässt sich das gedrängte Leben in großen Menschenansammlungen auch kultivieren. Nach den Ereignissen von Fukushima, als auch Tokio als größte Stadt der Welt von Radioaktivität bedroht schien, staunte die ganze Welt über die Gelassenheit und Disziplin der japanischen Bevölkerung. Gleiches lässt sich von den Millionen New Yorkern sagen, die während der 9/11-Attacke vor zehn Jahren Ruhe bewahrten - und schließlich auch wieder Zuversicht und Perspektiven entwickelten.

Paul Virilio, ein bekannter Untergangs-Euphoriker, meinte einmal, dass die Städte schließlich die Hauptrolle in der kommenden Apokalypse spielen würden. Mag sein. Oder auch nicht. Vielleicht sind die Städte der Zukunft nicht die Probleme, sondern die Lösungen.

© SZaW vom 29./30.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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