Kolumne: Vor Gericht:Zurück in die Zukunft

Lesezeit: 2 min

Werbeschild für einen Kebap-Laden an einer Hauswand in Mittelfranken. (Foto: imago stock&people)

Das freundlichste Verfahren Berlins: Warum ein Ire sich 29 Jahre nach seinem Überfall auf eine Dönerbude der Justiz stellt.

Von Ronen Steinke

Der Richter blättert durch ein paar vergilbte alte Fotos in der Strafakte und lächelt. 1994! Die Frisuren damals! Er nickt dem Angeklagten zu. "Wollen Sie mal gucken, wie Sie früher ausgesehen haben?"

Ein kleiner Moment am Richtertisch, fast wie ein Treffen von alten Bekannten. Ein freundlicher, älterer Ire beugt sich über die Fotos, er ist Bauarbeiter. Ein bescheidener Mensch, der vor vielen Jahren zuletzt in Berlin war, gute Erinnerungen und sogar ein paar Brocken Deutsch behalten hat - und sich jetzt auf charmante Weise bemüht, niemandem hier große Umstände zu machen.

Neben ihm, auch sehr interessiert an den alten Fotos: ein ebenfalls freundlicher türkischer Herr, der in Berlin heute in einem Kiosk seines Sohnes arbeitet, auch schon mit einem kleinen Bäuchlein. "Was haben wir damals jung ausgesehen!", sagt er. "Der ist auch ganz schön alt geworden", spottet der andere. Leises Gelächter im Saal. "Wie wir alle leider", sagt der Richter.

Die beiden Herren haben sich zuvor nur einmal im Leben getroffen. Das war vor 29 Jahren, als es in Berlin viele Baustellen gab und der Ire einmal sehr viele Biere getrunken hatte und dann auf die blöde Idee kam, mit einem Stock in der Hand zu versuchen, einen Dönerimbiss seiner Tageseinnahmen zu berauben. Der türkische Herr, damals 21 Jahre alt, stand hinter dem Tresen.

Es verlief dann undramatisch. Der türkische junge Mann hat sich leicht gegen den Betrunkenen wehren können - mit drohend erhobenem Dönermesser. "Ich hab dann die Polizei gerufen", erzählt er vor Gericht. "Damals gab es noch keine Handys." Alle schmunzeln. Wie viel kostete damals ein Döner?, will die Staatsanwältin wissen. "Vier Mark."

Alle sind neugierig auf die Zeugin: Was wohl aus seiner Freundin von damals geworden ist?

Einen solchen Prozess hat die Staatsanwältin noch nie erlebt. Er dürfte einmalig sein in Deutschland. 29 Jahre lang hat es der Ire vermieden, nach Berlin zurückzukommen und sich dem Gericht zu stellen. Er hat sein Leben in Großbritannien weitergelebt, gearbeitet, eine Familie gegründet, ohne jemals wieder straffällig zu werden. Die deutsche Staatsanwaltschaft sprach in den Neunzigerjahren zornig von zweieinhalb Jahren "Straferwartung", das heißt Gefängnis; aber niemand wollte ihn nach Deutschland ausliefern.

Erst jetzt, 2023, ist der Ire also zurückgekommen, um reinen Tisch machen, und er wirkt dann fast enttäuscht. Als Zeugin hat das Amtsgericht Berlin-Tiergarten seine damalige Berliner Freundin von 1994 geladen. Alle warten gespannt. Was wohl aus ihr geworden ist? Aber sie kommt nicht.

Der türkische Herr verabschiedet sich: "Schönen Tag wünsch ich euch."

Richter: "Ja. Schönen Tag."

Am Ende gibt es als Urteil für den Iren acht Monate auf Bewährung. Das ist eine kleine Warnung: Wir haben nichts vergessen! Wir behalten Sie im Auge! Nur falls der Ire nach 29 Jahren doch noch mal rückfällig werden sollte.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Kolumne: Vor Gericht
:"Ruhe auf den billigen Plätzen, meine Damen"

Was eine Frau erlebt, die vor Gericht um etwas kämpft, das selbstverständlich sein sollte: das Recht auf gleichen Lohn.

Von Verena Mayer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: