Kolumne "Luft und Liebe":Der Feind an seinem Tisch

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Wer kennt das nicht: Sie bestellt "erst mal nichts". Sobald das Essen kommt, stochert sie in seinem Teller herum. Wer nicht als beziehungsunfähig gelten will, sollte das lieber hinnehmen.

Violetta Simon

Etwas, das Frauen und Männer unheimlich oft miteinander tun, ist: miteinander essen gehen. Eigentlich unbegreiflich. Denn gerade in dem Moment, wenn sie ein Restaurant betreten, zeigt sich, wie unterschiedlich sie sind.

Der Feind an meinem Tisch: Gegen weiblichen Mundraub ist Mann machtlos. (Foto: Foto: iStockphotos)

Er: geht rein, setzt sich, bestellt. Isst, zahlt, geht. Jedenfalls würde er das tun, wenn er allein oder in männlicher Begleitung wäre.

Sie: bleibt im Windfang stehen, blickt sich interessiert im Lokal um und überprüft den Raum auf Schwingungen, Luftqualität und Akustik. Ist alles akzeptabel, schickt sie ihren Begleiter zu dem Tisch am Fenster vor, während sie ihren Blick schweifen lässt und weitere Optionen in Betracht zieht. Gerade als er es sich bequem gemacht hat und dem Kellner winken will, beordert sie ihn zu einem anderen Tisch.

In seinen Augen unterscheidet sich der erste vom zweiten Tisch durch nichts - beide haben vier Beine, eine Tischdecke, drum herum stehen Stühle. Nur sie allein ist in der Lage zu erkennen, dass das Licht hier schmeichelhafter ist, die Schwingtür der Küche außer Sichtweite bleibt und keine Zugluft die Nackenhaare aufstellt - kurz gesagt: Dieser Platz eignet sich perfekt für ein romantisches Essen zu zweit.

Romantik oder Essen?

Womit wir beim nächsten Missverständnis wären: "Romantisches Essen". Frauen denken dabei an Romantik. Männer an Essen. Nicht, dass ein Mann keinen Sinn für Romantik hätte. Er würde nur gerne, wenn möglich, satt dabei werden. Einigen Frauen hingegen scheint eine Kombination aus Kerzenlicht, Stoffservietten und Blumen zu genügen. Der Ausdruck "sich satt sehen" erhält damit eine ganz und gar neue Bedeutung.

Mit einer Frau essen zu gehen, kann für einen Mann recht frustrierend sein. Während sie sich darauf beschränkt, kalorien- und schadstoffarme Nahrung zu sich zu nehmen, regen sich bei ihm erste Zweifel, wie man nach einem Glas stillen Wasser und einem gemischten Salat genügend Energie für hemmungslosen Sex haben soll.

Doch auch sie leidet Höllenqualen: Möhrchen knabbernd stiert sie auf den Teller gegenüber. Dort liegt, dampfend und im eigenen Saft, ein deftiges Stück Fleisch. Für einen kurzen Moment steigert sich ihre Begierde in wilde Hungerphantasien. Schließlich wendet sie sich seufzend einer Salatgurke zu.

Schade, denn: Nicht ohne Grund liegen guter Sex und genussvolles Essen nah beieinander. Leider hat eines von beiden ziemlich viele Kalorien. Dieses Dilemma kann einem wirklich den Appetit verderben.

Die meisten Frauen haben deshalb einen ganz eigenen Umgang mit leckerem Essen entwickelt: die Methode der Selbsttäuschung. Sie basiert auf dem Denkansatz: Was ich nicht bestellt habe, kann ich auch nicht gegessen haben. Und was ich nicht esse, macht mich nicht dick.

Er: Hast du schon gewählt? Sie: Danke, ich will nichts. Aber nimm du doch die Lammkoteletts. Er : Du weißt doch, dass ich kein Lammfleisch mag. Sie: Ich aber. Er : Und warum soll ICH dann Lamm bestellen? Sie: Falls ich Hunger kriege, wenn das Essen kommt. Er: Ach. Und was soll ICH dann essen? Sie: Jetzt sei doch nicht so kompliziert. Vielleicht hab ich ja nachher gar keinen Hunger.

Das Essen kommt. Sie schnappt sich seine Gabel, beginnt in seinem Teller herumzustochern. Zerteilt das Fleisch, zerdrückt Kartoffeln in der Soße und schiebt sich alles in den Mund.

Er: lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr Kommentar: "Hast du gar keinen Hunger?"

Was ihr in diesem Moment nicht klar ist: Sie stochert nicht nur in seinem Teller ...

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Sie wildert in seiner Intimsphäre. Sie vereinnahmt ihn, ergreift Besitz von ihm. Kein Geheimnis ist vor ihr sicher, die Botschaft ist klar: Was deins ist, ist auch meins. Du gehörst mir.

Am liebsten würde er aufstehen und gehen. Eigentlich ist für ihn nicht nur der Abend, sondern die ganze Beziehung gelaufen. Warum nimmt sie nicht gleich den Teller und verteilt den Inhalt unter den übrigen Gästen? Eine Frau, die sein Essen derart hemmungslos mit einer Gabel malträtiert, hat auch keinen Respekt vor seiner Person.

Und während die Mundräuberin noch ahnungslos seine Brokkoliröschen hin- und herrollt, hat er sich bereits in die unerforschten Tiefen seines männlichen Schneckenhauses zurückgezogen. Und zwar möglichst unauffällig, denn: Jedes noch so dezente Zeichen von Unmut würde sofort als gezielte Ablehnung ihrer Person verstanden. Egal wie er reagiert - dasselbe nochmal für sie bestellen, etwas anderes für sich, ein zweites Besteck ordern - er riskiert, in ihren Augen als beziehungsunfähig und sozial verkümmert dazustehen.

Deshalb kann sie sich auch kein bisschen darüber freuen, dass er ihr seinen Teller hinschiebt und sagt: "Hier, iss. Ich bestelle noch eins." Im Gegenteil: Die Botschaft lautet: Ich möchte mit dir nicht von einem Teller essen. Ebenso könnte er sagen: "Du besitzt in meinen Augen die Attraktivität eines schleimigen Grottenolms." Ihre vermeintlich schamlose Aufdringlichkeit hingegen ist in Wirklichkeit nichts als ein Symbol uneingeschränkter Zuneigung.

Immer wieder beschweren sich Frauen, dass der neue Schwarm nach dem ersten oder zweiten Date in die Versenkung verschwand. Aus mangelndem Interesse? Kann vorkommen. Doch sicher gibt es eine nicht unerhebliche Dunkelziffer. Sie besteht aus jenen Männern, denen so viel Vertraulichkeit einfach zu viel ist.

Manche tauchen nach ein paar Tagen wieder auf und wagen einen neuen Versuch: "Einmal Lamm und zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Stellen Sie es einfach in die Mitte und legen Sie ein paar Gabeln dazu. Vielleicht kommen noch ihre Freundinnen."

Das ist zwar erzieherisch nicht sehr effektiv. Aber die perfekte Liebeserklärung. Und die einzige Möglichkeit in einer ausweglosen Situation.

Die Kolumne "Luft und Liebe" erscheint jeden Mittwoch auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/luftundliebe

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