Kirchenmusik:Der Niedergang der Gesangkultur

Seit 52 Jahren stand Manfred Henle seinen Mann im Zweiten Bass. Vor sieben Jahren fusionierten die Schwörstadter mit dem Kirchenchor von Öfingen, Henle fungierte im Vorstand, und sein Schwiegersohn leitete den Chor. Das Problem war keineswegs die Zahl der Mitglieder, mit 30 Sängerinnen und Sängern stand das Ensemble vergleichsweise gut da. Der Chor von Roman Puck in Straubing ist zahlenmäßig kaum stärker, aber im Schnitt um weit mehr als zwanzig Jahre jünger.

Das Problem war ein biologisches, das sich allmählich zu einem akustischen ausweitete: die Soprane. Der sehr offenherzige Herr Henle spricht vom "gefürchteten Tremolo", das sich bei hohen Frauenstimmen mit zunehmendem Alter einstellt. "Mit 70, 75 Jahren haben sie Probleme, die obersten Töne halbwegs sauber zu singen."

Aber auch Männerstimmen können scheppern wie rostiges Blech, wenn sie in die Jahre kommen und arg strapaziert werden. Und da sich keine jungen Sänger mehr fanden, weder in Schwörstadt noch in Öfingen. . . Manfred Henle beklagt den Niedergang der Gesangskultur im Allgemeinen. "Wer singt", sagt er, "ist heutzutage ein Ruhestörer." Er kennt 400 Volkslieder, an manchen Nachmittagen besucht er Altenheime und spielt für die Bewohner. Manche singen noch mit.

Für einzelne Projekte lassen sich Choristen finden

Wo sich eine Misere der Kirchenmusik ausmachen lässt, zieht sie sich durch beide Konfessionen. Der evangelische Kirchenchor im badischen Allmannsweier trat im vergangenen Jahr am Karfreitag zum letzten Mal auf, dann löste Obfrau Birgit Heitz ihn auf. "Wir hatten keine Männer mehr", sagt sie. Wer den ganzen Tag arbeite, dem fehle am Abend die Lust, sich noch mal anzustrengen.

Allerdings sprießt in Allmannsweier ein zartes musikalisches Pflänzchen: Für einzelne Projekte lassen sich immer wieder Choristen zusammentrommeln, um in einer überschaubaren Probenzeit zu bestimmten Feiern wie einer Glockenweihe einfaches vierstimmiges Liedgut zu erarbeiten. Aber nicht gleich Orchestermessen von Haydn oder Mozart.

Blickt man ein bisschen zurück in die Geschichte, dann sind Qualitäts- und Quantitätsschwankungen normal. Selbst in Bischofskirchen war die Lage zuweilen grauenhaft. Im Jahr 1829 glich der Besuch eines Gottesdienstes im Dom von Regensburg wegen der Kirchenmusik offenbar einer Ohrenfolter.

"Jämmerlich ausgeführte Dudelmusik"

Der spätere Kardinal Melchior Diepenbrock schrieb einem Freund: "Jeder Mensch von einigem Gefühle muss aufs Schmerzlichste verletzt werden, wenn er in der ehrwürdigen herrlichen Kathedrale der erhabenen Feier unserer religiösen Mysterien beiwohnend, diese elende, unter aller Kritik schlechte, geistlos aus dem Profansten gewählte, und noch jämmerlich ausgeführte Dudelmusik hört, die, bei der gänzlichen Zuchtlosigkeit des Musikpersonales, bei ihrem Lärm und Gepolter aus dem Chor, gerade darauf angelegt scheint, durch den grellsten Kontrast die heiligen Eindrücke nicht bloß zu stören, sondern gleichsam zu verhöhnen, welche der ehrwürdige alte Tempel und die religiöse Feier auf das empfängliche Gemüt machen."

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