Kirchenmusik:Wenn der Kirchenchor verstummt
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In vielen Gemeinden verschwinden die Chöre, Kirchenmusik hat heutzutage einen schweren Stand. Doch wo Profis am Werk sind, brummt der Laden.
Von Rudolf Neumaier
Die Straubinger können sich auf Ostern freuen. Der Kirchenchor der Pfarrei St. Josef wird die "Missa in Tempore Belli" darbieten, besser bekannt als "Paukenmesse". Ein prächtiges Stück Kirchenmusik, komponiert von Joseph Haydn in pompösem C-Dur. Da beben die Wände. Der Klang des mächtigen Chores von Straubing-St. Josef ist eigentlich viel zu groß für den Probensaal im Pfarrzentrum, er drängt hinaus.
Jeden Mittwoch nach der Abendmesse trifft sich dieser Chor zum Üben mit Roman Puck, seinem Chorleiter. Puck ist ein Motivationskünstler: Den Eifer der Sängerinnen und Sänger facht er mit charmantem Druck an. "Jaaa! Warum denn nicht gleich so!?", jubelt der Maestro beim dritten Versuch, an einer schwierigen Stelle im "Christe eleison" akkurat einzusetzen. Geschafft. Die Gesichter sagen: Das hier ist mehr als eine Chorprobe, das ist, hallelujah!, ein Fest.
Kirchenmusik hat einen schweren Stand
Die Kirchenmusik hat einen schweren Stand heutzutage, doch wo Profis wie Puck, 44, am Werk sind, da brummt der Laden. Er fordert seine Leute: Die Sitzflächen auf der Empore hat er maßschreinern lassen, und zwar kurz, damit die Sänger gefälligst aufrecht sitzen.
Der diplomierte Kirchenmusiker hat eine 75-Prozent-Stelle im niederbayerischen Straubing. Neben dem Chor leitet er in der Pfarrei eine Jugendband und eine Choralschola, gleichzeitig fungiert er als Organist. Seine Kollegin führt einen Kinderchor. Puck weiß, wenn er sich keinen Nachwuchs heranzieht, könnte er irgendwann allein auf seiner Empore sitzen - aber was wäre das für eine traurige Perspektive.
Die beseligende Kraft des Gesangs beschwören Christen seit der Antike: Wer singt, betet zweimal, quis cantat bis orat - der Ausspruch wird dem Heiligen Augustinus von Hippo zugeschrieben.
Immer mehr Kirchenchöre lösen sich auf
Die Suchmaschinen im Internet spucken Dutzende, wenn nicht gar Hunderte Lokalzeitungsberichte aus, gibt man das Begriffspaar "Kirchenchor aufgelöst" ein. Und wenn Manfred Henle, 73, mit seiner Einschätzung richtig liegt, dann werden es bald noch viel, viel mehr sein. Henle war selbst ein ebenso leidenschaftlicher wie zuverlässiger Kirchenchorsänger in der katholischen Pfarrei St. Clemens und Urban in Schwörstadt, das im idyllischen Rheintal zwischen Bad Säckingen und Rheinfelden liegt. In den nächsten zehn Jahren, sagt er, werde bei mindestens einem Drittel aller Chöre und Gesangvereine, wenn nicht sogar bei der Hälfte das Gleiche passieren: Aus, Ende, Amen. Die Kirchenmusik steht mal wieder an einer Schwelle.
Manfred Henle spricht es direkt aus. Es hatte einfach keinen Sinn mehr. Mit einem Altersdurchschnitt von 75 Jahren kannst du als Kirchenchor einpacken. Und so haben sie es dann auch gemacht. Am 8. Januar 2016 absolvierte Henles Kirchenchor seinen letzten Gottesdienst. Mit dem Schlussakkord des vierstimmigen "Sei behütet auf deinen Wegen" von Clemens Bittlinger verklang eine mehr als 200 Jahre alte Geschichte. Der Vorsitzende sagt: "Es war besser aufzuhören, bevor sich die Kirchenbesucher die Ohren zuhalten und denken ,Hoffentlich singen die nicht mehr'."
Seit 52 Jahren stand Manfred Henle seinen Mann im Zweiten Bass. Vor sieben Jahren fusionierten die Schwörstadter mit dem Kirchenchor von Öfingen, Henle fungierte im Vorstand, und sein Schwiegersohn leitete den Chor. Das Problem war keineswegs die Zahl der Mitglieder, mit 30 Sängerinnen und Sängern stand das Ensemble vergleichsweise gut da. Der Chor von Roman Puck in Straubing ist zahlenmäßig kaum stärker, aber im Schnitt um weit mehr als zwanzig Jahre jünger.
Das Problem war ein biologisches, das sich allmählich zu einem akustischen ausweitete: die Soprane. Der sehr offenherzige Herr Henle spricht vom "gefürchteten Tremolo", das sich bei hohen Frauenstimmen mit zunehmendem Alter einstellt. "Mit 70, 75 Jahren haben sie Probleme, die obersten Töne halbwegs sauber zu singen."
Aber auch Männerstimmen können scheppern wie rostiges Blech, wenn sie in die Jahre kommen und arg strapaziert werden. Und da sich keine jungen Sänger mehr fanden, weder in Schwörstadt noch in Öfingen. . . Manfred Henle beklagt den Niedergang der Gesangskultur im Allgemeinen. "Wer singt", sagt er, "ist heutzutage ein Ruhestörer." Er kennt 400 Volkslieder, an manchen Nachmittagen besucht er Altenheime und spielt für die Bewohner. Manche singen noch mit.
Für einzelne Projekte lassen sich Choristen finden
Wo sich eine Misere der Kirchenmusik ausmachen lässt, zieht sie sich durch beide Konfessionen. Der evangelische Kirchenchor im badischen Allmannsweier trat im vergangenen Jahr am Karfreitag zum letzten Mal auf, dann löste Obfrau Birgit Heitz ihn auf. "Wir hatten keine Männer mehr", sagt sie. Wer den ganzen Tag arbeite, dem fehle am Abend die Lust, sich noch mal anzustrengen.
Allerdings sprießt in Allmannsweier ein zartes musikalisches Pflänzchen: Für einzelne Projekte lassen sich immer wieder Choristen zusammentrommeln, um in einer überschaubaren Probenzeit zu bestimmten Feiern wie einer Glockenweihe einfaches vierstimmiges Liedgut zu erarbeiten. Aber nicht gleich Orchestermessen von Haydn oder Mozart.
Blickt man ein bisschen zurück in die Geschichte, dann sind Qualitäts- und Quantitätsschwankungen normal. Selbst in Bischofskirchen war die Lage zuweilen grauenhaft. Im Jahr 1829 glich der Besuch eines Gottesdienstes im Dom von Regensburg wegen der Kirchenmusik offenbar einer Ohrenfolter.
"Jämmerlich ausgeführte Dudelmusik"
Der spätere Kardinal Melchior Diepenbrock schrieb einem Freund: "Jeder Mensch von einigem Gefühle muss aufs Schmerzlichste verletzt werden, wenn er in der ehrwürdigen herrlichen Kathedrale der erhabenen Feier unserer religiösen Mysterien beiwohnend, diese elende, unter aller Kritik schlechte, geistlos aus dem Profansten gewählte, und noch jämmerlich ausgeführte Dudelmusik hört, die, bei der gänzlichen Zuchtlosigkeit des Musikpersonales, bei ihrem Lärm und Gepolter aus dem Chor, gerade darauf angelegt scheint, durch den grellsten Kontrast die heiligen Eindrücke nicht bloß zu stören, sondern gleichsam zu verhöhnen, welche der ehrwürdige alte Tempel und die religiöse Feier auf das empfängliche Gemüt machen."
Vom Bistum Regensburg ging dann eine kirchenmusikalische Reform aus: der Cäcilianismus. Er machte Cäcilia zu seiner Patronin, die Heilige der Kirchenmusik, die schon der Schriftsteller Heinrich von Kleist in seiner Erzählung "Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik" von 1810 literarisch als eine Wundertäterin geschildert hatte.
Allerdings ließ sich die cäcilianische Reform keineswegs bis ins letzte Dorf durchsetzen. Es mangelte schlichtweg an fähigem Personal. Aus niederbayerischen Dörfern unweit von Straubing ist zum Beispiel überliefert, dass Schullehrer allein wegen ihrer Eigenschaft als Schullehrer Orgel spielen mussten - gleichgültig, ob sie dazu überhaupt begabt waren und ob sie spielen wollten.
Dementsprechend fatalistisch fielen die Bewertungen der Dorfpriester über die eigene Kirchenmusik aus. Der Pfarrer des kleinen Ortes Westen meldete um das Jahr 1860 nach Regensburg: "In Mallersdorf ist der dermalige Schullehrer vielleicht der wenigst befähigte Organist in Niederbayern, darum wird in der Regel von Dilettanten die Orgel gespielt." Der Pfarrerkollege von Ottering urteilte: "Musik miserrime." Das heißt so viel wie: Musik unterirdisch. Volksgesang, also das Singen der versammelten Gottesdienstbesucher aus einem Gotteslob oder Liederbuch, war im 19. Jahrhundert noch nicht denkbar. Man muss sich vor Augen halten, dass Papst Pius X. im Jahr 1903 Frauen ausdrücklich von der Kirchenmusik ausschloss.
Kirchenorgel per Knopfdruck
Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil dürfen Frauen singen und Orgel spielen in der katholischen Kirche. Dennoch werden Organistinnen und Organisten seltener. Inzwischen steht den Pfarrern allerdings ein technisches Hilfsmittel zur Verfügung, mit dem sie per Knopfdruck vom Altar aus die Kirchenorgel ertönen lassen können.
Solche Vorrichtungen baut ein Ingenieur aus dem schwäbischen Ziertheim-Reistingen. Ein Organist kann darauf die Lieder einspielen, die der Pfarrer sich für die nächste Messe ausgesucht hat. Das Gerät speichert diese Informationen und spielt die Stücke mit einem Aufsatz über dem Tastenmanual exakt nach - wenn eben der Pfarrer auf den Knopf drückt. Neuere Orgeln spielen mit elektrischen Impulsen auch ohne Manualaufsatz. Seit 1993 gibt es diesen sogenannten Orgamaten. 250 Kirchen hat der Hersteller nach eigenem Bekunden damit ausgestattet, die Nachfrage steige.
CD-Player für die Trauerlieder
Bei Beerdigungen in Großstädten ist es längst gewöhnlich, dass ein CD-Player in der Aussegnungshalle die Trauerlieder spielt. Aber wer würde sich zum Beispiel die Musik auf seiner eigenen Hochzeit aus der elektronischen Retorte oder von einem Orgamaten pfeifen lassen? Pfarrer Michael Killermann aus Irlbach bei Straubing hat sein Orgelspielgerät demontiert und wieder einen Organisten gesucht. "Es klang wie ein Automat. Bei mir spielt jetzt wieder ein Mensch", sagt er, "ein Organist macht einen Sonntag zum Sonntag."
Ansprechende Kirchenmusik ist eine Marktlücke geworden. Und neue Musikrichtungen frischen den sakralen Markt auf. Weltweites Aufsehen erregte vor knapp zwei Jahren der irische Pfarrer Ray Kelly. Er sang bei einer Hochzeit eine eigene Textversion von Leonard Cohens Ballade "Hallelujah" und wurde so etwas wie ein kirchenmusikalischer Klick-Weltmeister auf Youtube. 50 Millionen Mal ist noch keine Interpretation von Haydns Paukenmesse geklickt worden. Mit Begabung und Inbrunst gesungen ist sie aber genauso wirkungsvoll. Und darauf kommt's ja an in der Kirche.