Kinder und Halloween:Fürchtet euch nicht!

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Wo hört der Spaß auf? Wo beginnt die Angst? Für Kinder ist das oft schwierig zu sagen. (Foto: Corbis/obs)

Gruseln ist schön, Angst weniger und ein Trauma schon gar nicht. Wie viel Angst verträgt ein Kind?

Von Christina Berndt

Wer darf dem Gruseln die Tür öffnen? An Halloween vor zwei Jahren rissen sich die damals siebenjährige Mira und ihr fünfjähriger Bruder Tom darum und rannten bei jedem Klingeln erwartungsvoll zur Haustür. Rosige Bäckchen hatten sie und vor Aufregung kalte Finger, wenn sie die gruseligen Fratzen erspähten, die im Flur "Süßes oder Saures" riefen. Begeistert teilten Mira und Tom die Süßigkeiten aus, die ihre Mutter im Flur deponiert hatte. Und solange nur die kleinen Nachbarskinder hinter der Tür auftauchten, ging auch alles gut.

Doch dann kam der Sensenmann. Groß war er, viel älter als Mira und Tom - und er schwang seine Sense so, dass die beiden dachten, er wolle sie wirklich einen Kopf kürzer machen. Laut schreiend rannten sie zu ihrer Mutter und weinten. Die Tür blieb den Rest des Abends zu. Der Berg Süßigkeiten, der ihnen nun ganz allein blieb, half nicht, sie zu trösten.

Alles nur Spaß? Kindern fällt die Unterscheidung manchmal schwer

Der Sensenmann hatte das angenehm-wohlige Gruseln, das bei den beiden bis dahin jedes Klingeln ausgelöst hatte, in echte Angst umschlagen lassen. "Gruseln ist schön, Angst nicht mehr", sagt Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor am Heckscher-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie in München. Der Unterschied zwischen den beiden Gefühlen ist das Maß an Wirklichkeit. Wer sich nur gruselt, weiß in seinem Innersten, dass alles nur Spaß ist, dass er ein Märchen hört, das am Ende gut ausgeht, und niemand ernsthaft in Gefahr ist. "Durch die unterbewusste Sicherheit, dass das Erlebte nicht echt ist, wird die Schwelle zur Angst nicht überschritten." So drückt es Rainer Rupprecht aus, der Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Regensburg.

Das schaurig-schöne Spiel mit Illusion und Realität: Es ist genau das, was Kindern und Erwachsenen an Halloween oder beim Anschauen unheimlicher Filme so verwirrend angenehme Gefühle bereitet. In dem Moment, in dem etwas Erschreckendes passiert, schreien wir im Kino womöglich auf oder halten uns die Hand vors Gesicht. Doch schon nach einem Bruchteil einer Sekunde wird uns klar: Es ist doch nur ein Film! Ein ganzer Mix von Hormonen überflutet uns, und zugleich wissen wir beim Gruseln schon, wie es sich anfühlen wird, wenn am Ende alles gut ausgeht und die Spannung nachlässt. Besonders reizvoll ist dabei die schmale Gratwanderung: die Gewissheit, dass der Schauder jederzeit in Angst umschlagen kann.

Deshalb sprechen Fachleute auch vom Thrill oder von der Angstlust, bei der Furcht, Wonne und Hoffnung eine so reizvolle Mischung ergeben. Eigentlich ist es verrückt: In dem Wissen, dass alles nur erfunden ist, genießt der Mensch das Gefühl, dass es sich anfühlt, als wäre alles echt.

Kinder mögen diesen Wonnegraus ebenso wie Erwachsene. Man kann dabei so herrlich die verschiedensten Gefühle durchspielen. Schon beim Verstecken kosten Kinder die schaurig-prickelnde Spannung aus, womöglich entdeckt zu werden. Noch dazu ist Gruseln extrem lehrreich. "Es hat für Kinder auch deshalb etwas Reizvolles, weil sie an ihre Grenzen gehen können. Sie testen sich aus, bis wohin der Nervenkitzel noch in Ordnung ist und wann die echte Angst beginnt", sagt Freisleder.

Allerdings besteht gerade bei Kindern immer die Gefahr, dass es doch zu viel des Gruselns wird: Oft können sie noch gar nicht einschätzen, wann es ernsthaft gefährlich wird - eine Fähigkeit, die man erst noch lernen muss. Außerdem fällt es ihnen schwerer, eine emotionale Distanz zu dem Erlebten aufzubauen. So kann es ihnen schnell zu viel werden.

Angst ist ein guter Ratgeber

Viele Eltern möchten am liebsten alles Furchteinflößende von ihren Kindern fernhalten. Meist ist das gut gemeint, aber wenig sinnvoll - auch weil ein Kind, das ständig in Watte gepackt wird, umso sensibler auf unheimliche Momente reagiert. Außerdem ist Angst an sich kein schlechtes Gefühl.

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Zwar fühlt sie sich zunächst einmal unangenehm an, doch evolutionsbiologisch betrachtet ist sie eine sinnvolle Emotion: Angst sorgt dafür, dass wir wegrennen, wenn der Säbelzahntiger um die Ecke biegt, und dass wir eben nicht darauf warten, ob er vielleicht nur spielen will. Auch hält sie uns gemeinhin davon ob, wahnwitzige Dinge zu unternehmen, mit denen wir unser Leben riskieren. "Angst ist immer auch ein hilfreicher Freund, der Warnsignale gibt vor echten Bedrohungen", sagt der Psychiater Freisleder.

Zu einer gesunden kindlichen Entwicklung gehört Angst einfach dazu. "Sie ist ein guter Ratgeber", sagt auch die Familientherapeutin Felicitas Römer, Autorin des Buches "Kinder dürfen Ängste haben". Wenn ein Kind mit seiner Angst spielt, seine Grenzen austestet, dann lernt es, wie weit es gehen kann, was es noch schaffen kann und wann es einfach zu viel ist. Nur wer Angst hat, lernt auch, mit seiner Angst umzugehen, und erfährt, welche Situationen wirklich gefährlich und welche wiederum besser zu meiden sind.

Wenn die Angst allerdings zu groß wird und nicht mehr aufhören will, wird sie zerstörerisch. Dann kann sie in der Tat die Seele aufessen. Das erlebt Franz Joseph Freisleder tagtäglich in seiner Klinik. "Mit nichts haben wir Kinder- und Jugendpsychiater so viel zu tun wie mit Angststörungen", sagt er. Aber kann so ein Erlebnis mit dem Sensenmann schon traumatisch sein, dass es die Seele auf Dauer verletzt? Die Geschwister Mira und Tom trauten sich jedenfalls in der ersten Zeit nach dieser Begegnung nicht mehr alleine zur Haustür. Es dauerte Wochen, bis sie wenigstens in der Nähe der Tür blieben, wenn sie wussten, dass eine Freundin zu Besuch kam, auf die sie sich freuten.

Einmal ist keinmal

So nachhaltige Folgen haben Situationen der Angst nur selten, sagt Freisleder. Wenn ein Kind mal furchtbare Angst aussteht, weil seine Eltern sich breitschlagen lassen, mit ihm Geisterbahn zu fahren und es sich danach die Augen aus dem Kopf heult, oder wenn ein Kind eines Abends unbemerkt ins Wohnzimmer kommt, während im Fernsehen gerade ein Mensch auf grässliche Art massakriert wird, dann hat das nur im Extremfall nachhaltige Folgen. "Meistens gilt: Einmal ist keinmal", sagt Franz Joseph Freisleder.

Doch so glimpflich geht es nicht immer aus. Manche Kinder haben nach einem schrecklichen Erlebnis anhaltend Albträume oder ändern über Jahre hinweg ihr Verhalten, um so etwas nicht noch einmal mitmachen zu müssen. In einer internationalen Studie mit mehr als 600 Studenten, an der auch das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) des Bayerischen Rundfunks beteiligt war, erzählte die 23-jährige Charlotte aus Kanada, dass ihr die Schlussszene aus dem Film "Hannibal" mit Anthony Hopkins, den sie mit zehn Jahren sah, bis heute nachhängt. In der Szene schneidet Hopkins alias Hannibal Lecter einem Polizisten ein Stück seines Gehirns heraus, brät es und füttert den Mann damit. "Ich kann an diese Szene nicht denken, ohne dass mir schlecht wird", erzählte Charlotte den Forschern. "Nachdem ich diesen Film angeschaut hatte, musste ich jahrelang bei meinen Eltern im Bett schlafen."

Weshalb sie genau Angst haben, können Kinder oft nicht sagen. Auch Mira und Tom haben nie wirklich erklären können, weshalb der Sensenmann solche tiefen Spuren bei ihnen hinterließ. Grundsätzlich gilt: Was einem Kind Angst macht, hängt stark von seinen bisherigen Erlebnissen, von guten und schlechten Erinnerungen ab - aber auch von seinem Charakter und Temperament, wie Felicitas Römer betont. Manche Kinder sind experimentierfreudiger, andere fürchten sich nun einmal schneller. Aber vorhersagbar ist nichts. Eltern sind oft überrascht, wenn ihren eigentlich so draufgängerischen Sohn plötzlich die Panik erfasst, nur weil ein Hund neugierig die Nase in seine Richtung ausstreckt.

Wie viel Angst normal ist, kann niemand pauschal sagen

Deshalb kann auch niemand sagen, wie viel Grusel ein Kind verträgt. "Darauf gibt es keine generelle Antwort", sagt Freisleder. "Es gibt Kinder, denen mehr zuzumuten ist. Und es gibt sehr schreckhafte, ängstliche Kinder. Das kommt auf die Wesensart an und auch darauf, wie abgehärtet die Kinder sind." So wie auch mancher Erwachsene gerne Gruselschocker schaut und sich in jedes noch so waghalsige Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt setzt, während der andere schon bei einem lahmen Krimi die Hand vors Gesicht hält. Vermutlich empfinden Menschen, die grausige Filmszenen genießen, weniger Empathie mit den Opfern und sind von der Machtposition der Bösen fasziniert, folgert die IZI-Studie. Letztlich müssten Eltern "gut hingucken, wie ihr Kind reagiert", sagt der Psychiater Freisleder, "und daraus ihre Schlüsse ziehen, was für ihr Kind noch in Ordnung ist".

Ein gewisses Maß an Angst ist jedenfalls normal - auch nach einem gruseligen Film oder im Dunkeln. "Aber wenn ein Kind ständig ergriffen wird von Angst oder wenn der Angst mit normalen Mitteln wie Zuwendung, einem kleinen Nachtlicht oder einem offenen Türspalt nicht mehr beizukommen ist, dann ist das ein Warnsignal", so der Kinderpsychiater. In diesem Fall sollten Eltern und Therapeuten herausfinden, wovor sich das Kind wirklich fürchtet. Angst vor der Schule kann die Folge von Überforderung sein, aber ebenso gut vor Mobbing oder vor beängstigenden Lehrern.

Die Kontrolle zurückzugewinnen, das hilft

"Nur wenn man die wahre Ursache der Angst herausfindet, kann man ihr auch hilfreich begegnen", sagt Freisleder. Hilfreich ist es in jedem Fall nicht, dem Kind aus voller Erwachsenen-Überzeugung zu sagen, dass seine Angst völlig unnötig, sinnlos und womöglich sogar lächerlich ist. Dann fühlt sich es zwangsläufig allein gelassen und steht womöglich noch mehr Ängste aus. Denn es erlebt seine Angst ja wirklich, dieses Gefühl scheint ihm völlig real. "Es hilft dem Kind am meisten, wenn man Körperkontakt zu ihm hält, es in den Arm nimmt oder seine Hand fasst", sagt Felicitas Römer.

Auch kleine Fluchten können eine Lösung sein. Wenn es nicht hilft, dass sich ein Kind bei einem Furcht einflößenden Film zu Mama oder Papa auf den Schoß flüchtet, dann sollte man das Kino einfach verlassen. "In jedem Fall ist es wichtig, das Kind und seine Angst ernst zu nehmen", sagt Römer. Und es zu ermuntern, der Angst auch entgegenzutreten.

Mira und Tom wollen in diesem Jahr an Halloween, zwei Jahre nach dem Erlebnis mit dem Sensenmann, doch wieder die Tür für die umherziehenden Skelette und Hexen öffnen. Aber diesmal wollen sie den Spieß umdrehen: Ihre Mutter muss ihnen blutunterlaufene Fratzen in die kindlichen Gesichter schminken, und sie hat ihnen bereits T-Shirts mit grün leuchtenden Knochen darauf gekauft.

Keine schlechte Strategie: Schließlich heißt Angst haben immer auch Ausgeliefertsein. Die Kontrolle zurückzugewinnen, das hilft. Da soll sich bloß mal einer trauen zu klingeln.

© SZ vom 24.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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