Als ihr Baby geboren wurde, stellten die Eltern mit Entsetzen fest, dass die Welt voller Gefahren war. Nicht, dass Banditen in ihrem Viertel ihr Unwesen trieben, nein. Die Gefahren lauerten, wo die Eltern eigentlich einen geschützten Raum vermutet hätten: in ihrer eigenen Wohnung.
Dort waren Fallen nicht hinter, sondern an allen Ecken. Scharfe Kanten, die nur auf stürzende Kinder warteten. Steckdosen, die verführerisch ihre geheimnisvollen Löcher präsentierten. Zuschlagende Türen, bereit, kleine Kinderfinger zu quetschen. "Gut, dass es noch nicht krabbeln kann", sagten die Eltern zueinander und fingen an, ihre Wohnung auszupolstern.
Eckenschützer schützten vor Tischecken, Türstopper stoppten Türen und Steckdosenstöpsel bewahrten vor Stromschlägen. Dazu kamen Schutzgitter vor Treppen und vor dem Herd. Und im Gästebad wartete ein Desinfektionsmittel auf Besucher, die freundlich, aber bestimmt um fleißigen Gebrauch gebeten wurden.
Nun waren die Eltern halbwegs beruhigt. Bis sie feststellen mussten, dass ihr Kind Schlupflöcher im durchdachten Sicherheitskonzept entdeckte. Es riss mit Vorliebe die Eckenschützer ab, klemmte sich die Finger unter der Tür ein und fiel stets neben statt auf den dicken Teppich.
"Und wieso", fragte die Freundin, "muss ich mir hier immer noch ständig die Hände desinfizieren, wenn dein Kind da hinten am Kinderwagenreifen lutscht?" Die Mutter riss es vom Reifen weg und rannte mit dem schreienden Kleinkind ins Bad, um es dort zum Mundausspülen zu nötigen. So hörte sie nur Halbsätze von der Freundin, "... Bakterien gut fürs Immunsystem ... Kinder auf dem Land viel gesünder ..." Was sie deutlich hörte war: "Überhaupt übertreibt ihr ein wenig!"
"Hätte ich ihr bloß nicht erzählt, dass wir dem Kind beim Laufenlernen vorne und hinten ein Kissen umgebunden haben", dachte die Mutter verärgert. Wobei sie zugeben musste, dass ihre Freundin schon immer viel entspannter gewesen war. Sie hatte zwei Söhne, die sie balancieren, klettern und ausprobieren ließ. Frei nach dem Motto: "Solange keiner schreit, ist alles gut."
Und seltsamerweise schrien die Söhne meistens nur im Streit. Sonst kletterten sie griffsicher in die Bäume, so hoch, dass die Mutter nicht hinsehen konnte. Die Freundin ließ das kalt. "Das können sie", sagte sie gelassen. Das hatte sie schon gesagt, als die Söhne so gut wie allein Treppensteigen, auf Bierbänke steigen und Radfahren gelernt hatten.
Nur die Mutter hatte es nicht ausgehalten, als der Sohn der Freundin einmal in Schlangenlinien auf eine Laterne zugefahren war. "Pass auf!", hatte sie gebrüllt. Der Sohn hatte sich erschrocken umgedreht und war gegen die Laterne gestürzt: Platzwunde an der Stirn, genäht mit fünf Stichen. "Verkneif dir dein hysterisches Schreien nächstes Mal ... bitte", hatte die Freundin gesagt.