Kolumne: Vor Gericht:Unzensiert

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Anderthalb Kilometer lange Außenmauer, 13 Wachtürme: die JVA Tegel. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Über ein großartiges Hochglanzmagazin, das es seit 55 Jahren gibt - und dessen Redaktion von zwei Gefängniszellen aus arbeitet.

Von Ronen Steinke

Die JVA Berlin-Tegel ist eine der dreckigeren, dunkleren Haftanstalten der Republik. Große Männer müssen den Kopf einziehen, um durch uralte Türrahmen zu kommen. Putz bröckelt, Metall rostet. Aber die Pressefreiheit, die den Gefangenen hier gewährt wird, kann sich sehen lassen: Die Gefangenenzeitung Lichtblick ist ein Hochglanzmagazin, ich bekomme sie jedes Quartal zugeschickt, freue mich dann immer. Bundesweit einmalig, gibt es die Zeitung seit jetzt 55 Jahren, in der Welt des Justizvollzugs entspricht das zwei Mal lebenslang mit besonderer Schwere der Schuld. Und seit 55 Jahren ist diese Zeitung vor allem eines: unzensiert.

Das ist großartig, egal wie schräg teils die Artikel sind, in denen etwa der Rechtsstaat als "wohlfeile Worthülse" abgetan wird oder in denen Redakteure den für Gefängnisse zuständigen Berliner Justizsenator verbal angingen mit den Worten: "Das ist der Punkt, an dem wir uns fragen, schreibt er den Schwachsinn selber oder bezahlt er dafür einen teuren Sachverständigen für Mental-Diarrhöe." In einer abgeschotteten Welt, in der Menschen in allen Bereichen ihres Lebens kontrolliert werden - von der Unterwäsche, die sie zu tragen bekommen, über die Toilette, die sie benutzen dürfen -, erwartet man einen solchen Freiraum nicht.

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Viele der 7500 gedruckten Ausgaben finden Leserinnen und Leser draußen, in Justiz, Politik und Wissenschaft, ein Abo kostet nichts, dank Werbeanzeigen aus der Anwaltschaft. Eine unsouveräne Gefängnisleitung könnte leicht auf den Gedanken kommen: Der PR-Schaden, den wütend pöbelnde Strafgefangene anrichten, die mit einem derart großen Megafon quer durch Deutschland brüllen ("Zustände schlimmer als in den schlimmsten Diktaturen!", heißt ein Artikel über den Strafvollzug in Hessen), ist durch keinen JVA-Pressesprecher und keinen festlichen Akt zum 125. Anstaltsgeburtstag je wiedergutzumachen. Aber die Gefängnisleitung in Berlin-Tegel hält es anders.

Die fünf Redakteure haben als Büros zwei Zellen. Über einen Telefon- und Internetanschluss dürfen sie mit der Außenwelt kommunizieren. Dabei sind ihre Berichte über Missstände ein Mittel, um Druck abzulassen. Zum Beispiel hat die Inflation im vergangenen Jahr den ohnehin grotesk überteuerten Anstaltskiosk noch teurer gemacht, und so las man in Heft 3/2022: "Das Land Bayern zahlt den Inhaftierten monatlich 16,67 Inflationsausgleich. Einmal erleben wir Bayern auch menschlich. Und Berlin?" Der Redakteur wies dann mit anklagendem Zeigefinger auf den Chef der JVA Berlin-Tegel.

Die Welt des Gefängnisses ist eine Welt der offiziellen Euphemismen: "Haftraum" statt "Zelle", "Justizvollzug" statt "Strafe", oder auch "Vollzugsbediensteter" statt "Aufseher". Es hat da einen großen Wert, dass wenigstens die Gefangenen nicht gezwungen werden, glattgebügelt zu reden und zu ihrer eigenen Inhaftierung gute Miene zu machen. Auch das ist ein Grundrecht.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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