Gesellschaft:Altwerden: „Ü100“ zwischen Lust und Frust

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Hella Müting lässt sich auch im hohen Alter die Haare schön machen. (Foto: älterwerden.net)

München (dpa) - Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, die Menschen hungerten, und Autos sahen aus wie Kutschen auf Rädern. Für die meisten Menschen heute längst vergangene Geschichte, bekannt aus Büchern, Film und Fernsehen. Nicht so für die Protagonisten im Film "Ü100", der seit April im Kino läuft.

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München (dpa) - Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, die Menschen hungerten, und Autos sahen aus wie Kutschen auf Rädern. Für die meisten Menschen heute längst vergangene Geschichte, bekannt aus Büchern, Film und Fernsehen. Nicht so für die Protagonisten im Film „Ü100“, der seit April im Kino läuft.

Die Regisseurin Dagmar Wagner hat acht Menschen mit der Kamera begleitet, die vor mehr als 100 Jahren geboren wurden - als Deutschland noch ein Kaiserreich war. Ihre Gesichter sind zerfurcht, die Augen sehen oft nicht mehr klar, und das Gehen fällt schwer. Doch was sind körperliche Gebrechen, wenn man sich vom Kopf her noch lange nicht wie 100 fühlt, so wie Ruja Diebold. „Ich spüre gar nicht, dass ich alt geworden bin“, sagt die begeisterte Pianistin, die den Film mit ihrem Klavierspiel untermalt. Ihr Alter? „Habe ich vergessen.“

Im Film, der zwischen 2013 und 2015 in und um München gedreht wurde, ist Diebold 102. Eine fröhliche, freundliche Frau. Virtuos gleiten ihre knotigen Finger über die Tasten des Klaviers. Mit entrücktem Lächeln lauscht sie den beschwingten Klängen, die sie dem Instrument entlockt, mit leichten Disharmonien, aber mit viel Kraft und Herz. „Das kann man nur spielen, wenn man jünger ist“, stellt sie zufrieden fest.

Auch Erna Rödling liebt ihr Leben, mittlerweile ist sie 107 Jahre. „Ich lebe noch gerne“, sagt sie und schwärmt vom FC Bayern und von ihrer Familie: Kinder, Enkel und Urenkel. „Ich bin dankbar für jeden Tag, es ist ja ein Erlebnis, ob gut oder nicht gut.“

Ein Leben, das sich oft nur noch in Gedanken abspielt. In dem das Glück des Tages darin besteht, den Vögeln im Garten zuzusehen und zu lauschen, wie der Wind durch die Bäume fährt. So wie Franz Xaver Schmid, im Film 100. „Das sind meine Kameraden, mit denen ich mich auch unterhalten kann“, erzählt er. „Sie geben keine Antwort, sie rauschen nur.“ Auch mit Gott führt er Zwiegespräche. „Ich trag ihm meine Wünsche vor, nur ist er wahrscheinlich schwerhörig wie ich, er kriegt nicht alles mit.“

Ist das lebenswert? Wer sein Leben mit Beruf, Freizeit und Smartphone durchgetaktet hat, mag das anzweifeln. Doch „Die Heidelberger Hundertjährigen-Studie“ kam 2015 zum Ergebnis: Hundertjährige sind genauso glücklich wie mittelalte und ältere Studienteilnehmer. „Trotz zahlreicher kognitiver und funktionaler Beeinträchtigungen sehen die meisten Hundertjährigen ihr Leben sehr positiv. 86 Prozent wollen das Beste aus ihrem Leben machen, und für 75 Prozent hat das Leben mit 100 Jahren einen Sinn.“

Das ist erfreulich, denn glaubt man den Forschern, wird es in Zukunft immer mehr Menschen dieses Alters geben. So wie etwa der Schauspieler Johannes Heesters, der 2011 mit 108 Jahren starb. Momentan sind unter den Hundertjährigen die geburtenschwachen Jahrgänge des Ersten Weltkrieges. Doch das werde sich ab 2019 wieder stark ändern, sagt Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Die Wahrscheinlichkeit, ein Alter von 100 zu erreichen, steige weiterhin stark. Dass in manchen Familien viele Mitglieder sehr lange leben, könnte nach Ansicht Klüseners genetische Ursachen haben. „Eventuell pflegen diese Familien aber auch einen bestimmten Lebensstil, der besondere Hochaltrigkeit begünstigt.“

Doch es gibt auch die Tücken des Alters. „Bis 100 ließ ich es mir noch gefallen, aber was drüber ist, taugt nichts mehr“, klagt im Film die 103-jährige Anna Pöller, seit Jahren im Rollstuhl. Gerne denkt sie an ihre Jugendzeit, als sie mit Freunden in den Bergen wanderte, als die Zither gespielt wurde und alle Erbsensuppe aßen. „Jetzt wünsche ich mir nur, dass meine Augen zugehen und fertig und Amen, jetzt bin ich reif für den Untergang.“ Ihr Wunsch wurde erhört, Pöller ist mittlerweile gestorben, ebenso wie Diebold, Schmid und drei andere Protagonisten des Films. Alter ist nicht immer schön, das wird im Film klar. Vor allem, wenn der Ehepartner, Freunde oder sogar die eigenen Kinder schon gestorben sind.

Hella Müting dagegen ist noch munter und begegnet den Widrigkeiten des Alters auf ganz eigene Art. Sie genießt die regelmäßigen Friseurbesuche, unterhält ihre Freundinnen beim Kaffeekränzchen und beeindruckt mit ihrer Willenskraft. Um sich fit zu halten, strampelt sie auf einem Fahrradtrainer und freut sich, dass sie ohne Reue Bitterschokolade mit Rotwein genießen kann, „die Zähne sind ja raus“. Eine starke Frau, die fünf Kinder alleine großgezogen und als Lehrerin gearbeitet hat und die trotz Falten und Tränensäcken immer noch so jung und neugierig wirkt, wie sie wohl auch in jüngeren Jahren war. Kein Wunder, findet die heute 104-Jährige: „Man bleibt immer ich.“

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