Kolumne: Vor Gericht:Der Meisterdetektiv

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Erinnerte unseren Kolumnisten an Hercule Poirot: Anwalt Gunter Widmaier, hier in einer Aufnahme von 2006. (Foto: Uli Deck/picture-alliance/dpa)

Ein guter Strafverteidiger ermittelt auch auf eigene Faust. Wie Gunter Widmaier, der im Fall des "Badewannen-Mordes" für einen Freispruch kämpfte.

Von Ronen Steinke

Unschuldig ins Gefängnis eingesperrt zu werden, das ist so ziemlich das Übelste, was einem Mensch in diesem Staat geschehen kann, für den Betroffenen ist es, wie lebendig begraben zu werden bei gleichzeitigem Rufmord. Hört her, Herr Steinke ist ein Mörder, und er hat sich diese Gefängnisstrafe redlich verdient! Dass auch die Vernichtung des bürgerlichen Achtungsanspruchs mit einer solchen unberechtigten Verurteilung und Inhaftierung einhergeht, erklärt zumindest einen Teil der großen Freude, mit der jetzt viele Leserinnen und Leser der SZ den späten Freispruch für Manfred Genditzki verfolgt haben. Mir geht es da auch so.

Der "Badewannen-Mord", der sich im kleinen Rottach-Egern am Tegernsee zugetragen haben soll, an einem ruhigen Dienstagnachmittag - das war gar kein Mord, sondern bloß ein blöder Unfall, wie inzwischen klar ist. Eine 87-jährige Rentnerin ist in einem Moment der Schwäche bekleidet in ihre Badewanne gefallen und unter laufendem Wasser ertrunken. Ihr Hausmeister Manfred Genditzki hatte nichts damit zu tun. Aber wer diesen Hausmeister dann vor dem Strafgericht erlebt hat, auf der Anklagebank - ich habe das im Herbst 2011 ein paar Wochen lang getan -, der erlebte einen schon damals geknickten, verunsicherten Menschen. Plötzlich grau, ängstlich. Passiv.

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Was mir von damals am stärksten in Erinnerung geblieben ist, das ist der Strafverteidiger, der sich dieses Falls annahm. Gunter Widmaier, damals schon 73 Jahre alt. Ein Auftritt wie der Detektiv Hercule Poirot aus den Agatha-Christie-Romanen: In meiner Erinnerung sehe ich Widmaier im Gerichtsaal auf- und abschreiten, eine Zeugin umkreisend, ein Lächeln im Gesicht, eine Augenbraue hochgezogen, die elegante schwarze Robe wehte wie der Mantel eines Zauberers. Aber daran sieht man nur, wie trügerisch die menschliche Erinnerung ist. Stattdessen lief das garantiert alles im Sitzen ab.

Gunter Widmaier, ein Großmeister seines Fachs, zerpflückte die Indizien der Ankläger mit ausgesuchter Höflichkeit, aber brutal. Da ging es zum Beispiel um die Temperatur des Leitungswassers im Alpenvorland, die offenbar niedriger ist als in den meisten anderen Regionen Deutschlands, was wiederum den Wert eines Gutachtens der Staatsanwaltschaft erschütterte. Widmaier ermittelte auf eigene Faust, er sprach über die Medikamente, die die 87-jährige Verstorbene einnahm, er konnte fesselnd über Blutgerinnung dozieren, er brachte einen Stunt-Experten eines Filmstudios mit. Und das alles, ohne viel Geld dafür zu bekommen. Denn der Hausmeister, der bloß blass zusah, hatte fast nichts mehr.

Widmaier starb leider schon im Jahr darauf. Der Hausmeister blieb dann 13 Jahre lang unschuldig hinter Gittern. Widmaiers Arbeit wurde am Ende durch eine jüngere, idealistische Anwältin aus München, Regina Rick, fortgeführt - und letztlich zum Erfolg geführt. Widmaier hat den Erfolg nicht mehr miterlebt. Aber ich habe zuletzt oft an ihn gedacht. Ohne diesen Meisterdetektiv wäre dieser Justizirrtum vielleicht nie korrigiert worden.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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