Mein Sohn, 6, liest und rechnet, seit er drei Jahre alt ist. Im Kindergarten fühlt er sich wohl, doch bald kommt er in die erste Klasse. Die Regelschule nebenan sieht ganz nett aus, aber viele Bekannte erzählen schlimme Geschichten über sie - vor allem dann, wenn die Kinder etwas weiter sind als Gleichaltrige. Sollen wir ihn an der teuren und privaten Montessorischule anmelden? Beate H., München
Margit Auer:
Puh! Soll man den Geschichten trauen? Verschaffen Sie sich selbst ein Bild! Ich bin für Lesungen in vielen Schulen unterwegs, und erstaunlicherweise merkt man sehr schnell, ob die Schule etwas taugt oder nicht. Es gibt Schulen, da hetzen die Kinder aneinander vorbei, schlagen sich die Tür vor der Nase zu, keiner grüßt. An anderen empfängt der Hausmeister oder eine Lehrerin die Kinder am Morgen, sagt ein paar nette Worte und achtet darauf, dass niemand Müll auf den Boden wirft. Die Durchsagen klingen nett, nicht autoritär. Die Lehrkräfte sind zugewandt, nicht hektisch und gestresst. Nehmen Sie Ihren Sohn mit zur Schule, spazieren Sie über den Pausenhof, überlegen Sie gemeinsam, welcher Freund mit ihm eingeschult wird. Übrigens: Auch an Privatschulen scheint nicht immer die Sonne. Und: Was ist schon Durchschnitt? Auch das zeigen meine Schulbesuche: Grundschulen sind kunterbunt, voller Talente, Nationalitäten, Sprachen. Das ist spannend! Und eine Herausforderung für alle.
Herbert Renz-Polster:
Ein Klassiker, bei dem man wahrscheinlich erst im Nachhinein klarer sieht. Die "Schule nebenan" gibt es nämlich genauso wenig wie die "teure Montessorischule", es gibt nur die Klasse 1c mit dem Lehrer soundso oder der Lehrerin sowieso, und dazu gibt es dann einen Hort, der klasse sein kann oder eben miserabel. Leider segelt man da auf gut Glück, so wie man überhaupt an der durchschnittlichen deutschen Schule oft genug nur beten kann, auch wenn die Kruzifixe längst abgehängt sind. Dazu kommt die Welt außerhalb der Schule - Kinder, die gemeinsam in die Schule gehen, bilden auch im nachbarschaftlichen Umfeld eher eine Kindergruppe, die auch über die Schule hinaus Zauber macht - und das wäre für Ihren Sohn ja ebenfalls eine wichtige Karte für seine Entwicklung. Und offenbar hat er ja bereits Freunde, die dann mit ihm in die Schule nebenan gehen würden. Andererseits: Fakt ist trotzdem, dass er viel Zeit in der Schule verbringen wird, und wenn es da nicht läuft, ist das kaum aufzuwiegen. Kinder brauchen Flügel und leuchtende Augen, da hilft alles nichts. Wo so viel von den Umständen abhängt, käme es auf einen Versuch an. Wenn alle Stricke reißen, könnte er ja immer noch wechseln.
Collien Ulmen-Fernandes:
Als ich neulich den Sohn eines Freundes aus der 7. Klasse einer Regelschule abholte, fiel mir auf: Es hat sich nichts verändert. Tafeln, Bänke, Geodreieck. Sah alles so aus wie damals. Die Glocke, das Klo, die Lehrersprüche ("Es ist für uns alle die 6. Stunde!") - alles exakt wie vor 25 Jahren, als ich noch zur Schule ging. Was für ein altes System, dachte ich. Aber das stimmt nicht. Es ist noch viel älter. Unsere Kinder gehen auf Schulen und lernen so wie vor mehr als 50 Jahren. So wie man damals dachte, dass Menschen lernen sollten: Goethe, Matheformeln, Vokabeln, Jahreszahlen auswendig lernen. Was man vor 50 Jahren noch nicht wusste: Kaum etwas von dem, was Kinder in unseren Schulen lernen, bleibt hängen. Anders gesagt: Unser Schulsystem ist nicht auf dem aktuellen Stand der Hirnforschung und Entwicklungspsychologie. Oder mit Konfuzius gesagt: "Das, was man erklärt bekommt, vergisst man. Das, was einem vorgemacht wurde, daran erinnert man sich. Nur das aber, was man selber gemacht hat, kann man." Und auf dieser Idee gründet, sehr vereinfacht gesagt, der Montessori-Ansatz: Kinder lernen, indem sie Dinge selbst erfahren. Montessori verlässt sich auf die natürliche Neugier eines jeden Kindes. Und aus eigener Erfahrung mit meiner Tochter kann ich Ihnen sagen: Es funktioniert. Nachhaltig. Neugier ist nämlich ein stärkerer Motor als die Note 1 und Strafarbeit.