Sie befinden sich länger in der Ausbildung als früher, ziehen immer später von zu Hause aus und denken erst mit 30 an eine eigene Familie: Junge Erwachsene sind zwar mit 18 volljährig - aber sind sie auch reif genug, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen? Wenn es nach zahlreichen Kinder- und Jugendpsychologen geht, noch lange nicht. "Meiner Erfahrung nach brauchen junge Leute weit über dieses Alter hinaus noch eine Menge an Unterstützung und Hilfe", sagt die Londoner Psychologin Laverne Antrobus, Expertin für psychoanalytische Therapie.
Sie und eine Reihe weiterer Experten fordern deshalb, dass diese allgegenwärtige "Verlängerung der Jugend" auch medizinisch anerkannt werde. Wie die BBC berichtet, soll eine neue Richtlinie für Psychologen in Großbritannien dafür sorgen, dass die Altersgruppe, mit der sie arbeiten, von 0-18 auf 0-25 Jahre erweitert wird. Derzeit endet dort, ebenso wie in Deutschland, die Behandlung im Bereich der Jugendpsychiatrie mit 18 Jahren. Die neuen Vorgaben sollen verhindern, dass junge Menschen mit Erreichen der Volljährigkeit durch das Raster im Gesundheits- und Bildungswesen fallen.
Hanna Christiansen, Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Philipps-Universität Marburg, hält diese Maßnahmen für sinnvoll. "Manche 18-Jährige sind mit der Situation auf stationären Einrichtungen für Erwachsene eindeutig überfordert." Sie seien noch nicht vollständig unabhängig von ihren Eltern, zugleich habe der Therapeut aber keine Möglichkeit mehr, diese miteinzubeziehen.
Auch unabhängig davon sei zu beobachten, dass sich das Erwachsenwerden verzögere. "Vor 50 Jahren hat keiner groß nach Förderung gefragt, die Kinder wurden früh eingebunden und mussten arbeiten", so Christiansen. Seit Frauen ihre Kinder später bekämen, erhielten diese einen höheren Stellenwert. "Mein Eindruck ist, dass Eltern ängstlicher sind. Gefahren, über die sich früher niemand Gedanken gemacht hat, werden antizipiert - und diese Ängste übertragen sich auf die Kinder."
Christiansen ist nicht alleine mit dieser Vermutung: "Kinder, die überbeschützt aufwachsen, entwickeln mit der Zeit ein ängstliches Gefühl ihrer Umwelt gegenüber", zitiert der britische Soziologieprofessor Frank Furedi auf seiner Homepage den amerikanischen Familienwissenschaftler Deb Gebeke von der University of North Dakota. "Sie tun sich schwer damit, Unabhängigkeit und Selbstvertrauen zu entwickeln."
Dabei sei die Welt nicht grausamer als früher, es gebe es also keinen Grund, den Nachwuchs länger zu behüten, findet Soziologe Furedi: "Ich denke, es liegt einfach daran, dass wir unsere Kinder bereits in frühem Alter zurückhalten. Mit elf, zwölf, 13 lassen wir sie nicht alleine losziehen. Wenn sie 14, 15 sind, schweben wir noch immer über ihnen und schirmen sie ab vom wahren Leben. Und wenn sie an der Universität studieren, behandeln wir sie wie Schüler."
Furedi bringt es auf den Punkt: "Wir haben die jungen Leute infantilisiert. Das hat dazu geführt, dass eine wachsende Zahl von jungen Männern und Frauen in ihren späten Zwanzigern noch immer bei ihren Eltern lebt", sagte er der BBC. Mit anderen Worten: Die große weite Welt, sie lockt nicht mehr. Abnabelung war gestern, schließlich genießt der vormals überbehütete Nachwuchs volle Versorgung bei größtmöglicher Freiheit.
Warum das Ausziehen so schwer fällt? " Oftmals werden wirtschaftliche Gründe vorgeschoben, aber eigentlich ist das nicht der Grund", sagt Furedi. Vielmehr handele es sich um ein sinkendes Bedürfnis nach Unabhängigkeit und danach, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. "Als ich zur Uni ging, hätte es den gesellschaftlichen Tod bedeutet, in Begleitung seiner Eltern gesehen zu werden", erinnert sich der Soziologe. Heute hingegen sei das die Norm.
Die Medien spiegeln diese Entwicklung: TV-Serien wie "Gavin und Stacey" präsentieren Erwachsene, die bei ihren Eltern leben und sich verhalten wie Berufsjugendliche. "Immer mehr junge Erwachsene schauen sich Kinderfilme im Kino an" sagt Furedi. "Von den Zuschauern des Kinderprogramms in Amerika sind 25 Prozent nicht mehr als Kinder zu bezeichnen, sondern eher erwachsen."
Der US-Psychologe Jeffrey Jensen Arnett prägte den Begriff "Emerging Adults" für jene 20- bis 30-Jährigen, die immer später erwachsen werden. "Es handelt sich dabei um eine Zwischenstufe zwischen Jugend und Erwachsenenalter", erklärt Martin Pinquart, Professor für Entwicklungspsychologie an der Uni Marburg. In dieser Phase würden jungen Menschen zwar schon Erwachsenen-Privilegien eingeräumt, wie zum Beispiel Führerschein, Wahlrecht und Alkoholkonsum, aber noch nicht die volle Verantwortlichkeit - wie finanzielle Selbstversorgung und Berufstätigkeit.
Aber wann gilt man denn nun als erwachsen? Pinquart unterscheidet nach drei Krtiterien: "Erstens: die Altersgrenze. Zweitens: der Vollzug von Rollenübergängen ins Erwachsenealter, also Schulabschluss, Berufstätigkeit, Auszug, Elternschaft, Heirat. Und drittens: die psychosoziale Reife, die zeigt, ob jemand Verantwortung übernimmt für das eigene Verhalten."
Vor allem der Zeitpunkt, an dem diese Rollenübergänge vollzogen werden, habe sich verschoben - nicht zuletzt aufgrund der durchorganisierten Förderung durch übermotivierte Eltern. "Es bleibt schon weniger Raum, sich selbst auszuprobieren, eigene Hobbies zu entwickeln oder Zeit im Freundeskreis und außerhalb des Einflusses der Erwachsenen zu verbringen", gibt Pinquart zu bedenken. Hier müsse man versuchen, eine gute Balance zu finden, also einerseits Kompetenz zu erwerben und dennoch Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen.
Eine feste Altersgrenze ohne nähere Prüfung des einzelnen jungen Erwachsenen einzuführen, hält der Entwicklungspsychologe für schwierig. "In manchen Bereichen sind die meisten 18-Jährigen durchaus verantwortungsvoll, in anderen weniger - etwa, was Komatrinken und illegale Substanzen betrifft." Sinnvoller und auch angemessener seien daher Gutachten zur psychischen Reife und eine differenziertere Sicht auf die Thematik. "Ich bin eher für flexible Grenzen, zumal in dem Alter noch nicht alle klassischen Rollen des Erwachsenenseins übernommen werden."
Für ein Lamento im Sinne von "Früher war die Jugend besser" sieht er keinen Anlass, schließlich hätten das bereits unsere Vorfahren beklagt: Der US-Psychologe G. Stanley Hall schrieb 1906 in seinem ersten Lehrbuch über die Psychologie des Jugendalters, dass die damalige Jugend viel problematischer sei als vorherige. "Dieses Bild geistert durch diverse Schriften", sagt Pinquart. "Allerdings ist aus dieser Generation trotzdem etwas Vernünftiges geworden, genau wie aus den folgenden auch."