Die Mühen der Erziehung:Laaaaangweilig

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Dieses Wort aus dem Mund des Kindes ist ein ewiges Trauma für Eltern. Es setzt sie unter Druck wie kaum ein zweites. Dabei hat Langeweile auch ihr Gutes.

Von Michael Neudecker

Eltern sein heißt Opfer sein, zumindest kommt einem das so vor, wenn man Eltern manchmal zuhört. Ja gewiss, Kinder sind toll und süß und überhaupt, aber ehrlich: Sind manche Sätze, die aus dem Kindermund kommen, nicht auch ganz schön nervig? Betroffene berichten etwa vom häufig verwendeten "Mir schmeckt das niiiicht", wobei hier schon ein wesentliches Merkmal nerviger Kindersätze zu erkennen ist, nämlich die unverhältnismäßige Betonung eines Vokals, gerne gegen Ende des Satzes. Immer wieder gehört auch: "Ich will niiicht", oder: "Wann sind wir daaaa!", wobei hier entscheidend ist, dass bei Fragen das Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzt wird. Ein besonders oft von armen, geplagten Eltern angeführter Satz ist der Ausruf: "Mir ist so laaaaangweilig!" Es soll sogar Eltern geben, bei denen dieser Satz auf Rang eins der Hitparade des Grauens liegt.

Glücklicherweise gibt es heutzutage Ratgeber für alles, und es gibt Wissenschaftler, die Fragestellungen erforschen, bei denen man als Laie gar nicht ahnen konnte, dass man sie erforschen kann. In Großbritannien etwa haben Wissenschaftler vor einiger Zeit eine Untersuchung durchgeführt, bei der sie Beschäftigte im öffentlichen Dienst befragten, und sie fanden heraus: Das Risiko eines Herzinfarktes war um den Faktor 2,5 erhöht, wenn sich der Befragte im vorangegangenen Monat bei der Arbeit gelangweilt hatte. Stimmt es also, was Kinder ja auch immer sagen: Stimmt es, dass man vor Langeweile sterben kann?

Wichtige Triebfeder der kindlichen Entwicklung

Bislang ist kein Fall bekannt geworden, in dem die Diagnose "Tod durch Langeweile" gestellt wurde, aber tatsächlich gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Langeweile im Übermaß zu Beeinträchtigungen der Psyche führen kann. Das aber heißt nicht, dass die Langeweile zwangsläufig der größte Feind des Kindes ist, neben Hunger, Durst und dem fiesen Nachbarshund.

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Im Gegenteil: Es ist hinlänglich bekannt, dass Langeweile zu den wichtigsten Triebfedern der kindlichen Entwicklung gehört, so hinlänglich, dass kaum zu zählende Hirnforscher und Erziehungswissenschaftler Bücher über die Langeweile bei Kindern und den Umgang damit geschrieben haben. Eine zentrale Forderung darin ist stets: Langeweile zulassen! Eltern sind Eltern, keine Entertainer, weshalb Ratgeber, die lustige Spiele als Mittel gegen die Langeweile vorschlagen, durchaus skeptisch zu betrachten sind. Wenn da steht: "Lassen Sie die Kinder bei der Gartenarbeit helfen - ein Seifenblasen pustender Rasenmäher erhöht dabei den Fun-Faktor", dann erhöht das nicht unbedingt den Sinn-Faktor.

Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck zum Beispiel schreibt in seinem populären, 2005 erschienenen "Erziehungsbuch": Eltern sollten auf den Mir-ist-so-langweilig-Satz am besten gar nicht reagieren. Das Kind brauche Freiraum, um selbst Ideen zur Beschäftigung zu entwickeln, schreibt Struck, und Eltern, die bei jedem Knatsch-Anflug Sofortmaßnahmen zur Bespaßung einleiteten, schafften sich langfristig gesehen nur das Problem, dass das Kind ebenjenes Verhaltensmuster immer wiederholte. Es merkt sich die Gleichung "Mir ist so laaaaangweilig = Ich werde bespaßt". Für Eltern auf Dauer verheerend.

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Peter Struck steht mit dieser Meinung nicht alleine da, im Gegenteil: Schlag nach bei Nietzsche. Der schrieb: "Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maß seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heißt die Arbeit, welche kein anderes Bedürfnis stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück." Bedeutet: Ohne Langeweile keine Kreativität.

Eine viel beachtete Studie dazu führten vor drei Jahren die Psychologen Benjamin Baird und Jonathan Schooler von der University of California in Santa Barbara durch. Sie gaben 145 Studenten zwei Minuten Zeit, möglichst viele und möglichst ungewöhnliche Verwendungsmöglichkeiten für Alltagsgegenstände wie Zahnstocher, Kleiderbügel oder Ziegelsteine aufzulisten. Dann wurden die Studenten in vier Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe machte mit der Liste weiter, die zweite ruhte sich aus, die dritte hatte eine schwierige, die volle Konzentration beanspruchende Aufgabe zu lösen, und die vierte bekam eine eintönige, unterfordernde Aufgabe. Nach zwölf Minuten wurden alle noch einmal vor die gleiche Aufgabe gestellt wie eingangs, nämlich ungewöhnliche Verwendungsmöglichkeiten für Zahnstocher und Co. zu finden - und während in den ersten drei Gruppen kaum Unterschiede festzustellen waren, verbesserte sich die vierte Gruppe um 41 Prozent. Die Studenten also, die mit einer simplen Aufgabe gelangweilt wurden, hatten nebenbei ganz offensichtlich die erste und interessantere Aufgabenstellung unterbewusst und ohne Ergebnisdruck weiter bearbeitet.

Ein Kind, das nie Langeweile erlebt hat, wird zum Multitasking-Mutanten

Aus Sicht des Mediziners liegt das daran, dass in einer Phase, in der das Gehirn kaum gefordert wird, dennoch Aktivitäten feststellbar sind, die dazu führen, dass das Gehirn danach leistungsfähiger ist als zuvor. Aus Sicht der Philosophen, hier der Existenzialismus-Begründer Sartre und Camus, ist die Langeweile eine der zentralen Erfahrungen, ohne die der Mensch sein eigenes Sein nicht erkennen kann. Und in Erziehungsratgebersprache formuliert: Ein Kind, das nie gelernt hat, seine Langeweile zu überwinden, weiß auch als Erwachsener nicht, was es mit sich anfangen soll, sondern wird im besten Fall zum Multitasking-Mutanten.

Was daraus folgt, ist nun nicht, das Kind mit seiner Langeweile alleine zu lassen. Struck und Kollegen raten dazu, die Kinder gelegentlich mit einer Art Hilfe zur Selbsthilfe zu unterstützen, Anregungen zu geben also, die das Kind selbst weiterentwickeln kann. Wichtig ist zudem, "Freizeit" wörtlich zu nehmen - einem Kind, das am Montag Geigenunterricht hat, am Dienstag Fußball, am Mittwoch Turnen und so weiter, fehlt die Zeit, sich zu langweilen, ergo die Chance, über sich selbst und die eigene Beschäftigung nachzudenken. Die meisten Experten empfehlen, höchstens zwei Termine, besser nur einen pro Woche für ein Kindergartenkind zu vereinbaren; nicht eingeschlossen sind selbstverständlich Verabredungen mit anderen Kindern.

Dazu noch mal Nietzsche, aus dem Werk "Die fröhliche Wissenschaft": "Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ,Windstille' der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten - das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können. Die feinsten und tätigsten Tiere erst sind der Langeweile fähig." Anders gesagt: Der Mensch braucht animationsfreie Phasen, um sich weiterzuentwickeln, das ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen, weshalb man dankbar sein muss, dass der Mensch das Smartphone lange nach dem Rad erfunden hat.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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