Kolumne: Vor Gericht:Graubereiche

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Beliebte App für alle, die einen Partner oder eine Partnerin suchen: Tinder. (Foto: IMAGO/Bihlmayerfotografie)

Über einen Berliner Anwalt, der nun "Tinder-Fälle" verteidigt: Männer, die nach einem One-Night-Stand von Frauen angezeigt werden.

Von Ronen Steinke

Neulich im Deutschen Theater saß auf der Bühne die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm, die ein sehr bewegendes Buch über ihre Erfahrungen vor Gericht geschrieben hat. Frauen, die vergewaltigt worden sind und sich dann anhören müssen, man glaube ihnen nicht. Frauen, die "kleine Grenzüberschreitungen" erleben, wie Clemm sagt, und dann oft Schlimmeres. Im Publikum unten saß, eher im Dunkeln, ein weiterer Jurist, freundliches Gesicht und Glatze, der von sich selbst sagt, er sei so etwas wie ihr Gegenstück. Clemm vertritt Betroffene von - mutmaßlicher - sexueller Gewalt. Er die Beschuldigten.

Wenn zum Beispiel auf der Berliner Fashion Week Cocktails getrunken werden, zwei Leute tanzen, landen im Bett, haben Sex, aber am nächsten Morgen gibt es Differenzen darüber, was da gestern war - dann findet so ein Beschuldigter oft den Weg zu ihm, Rechtsanwalt Ursus Koerner von Gustorf. Brutale Vergewaltigungen waren schon immer strafbar, aber der Anwalt ist auf etwas anderes spezialisiert: One-Night-Stands. "Nein heißt nein", die Gesetzreform unter diesem Slogan hat 2016 bewirkt, dass schon jede sexuelle Handlung "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person" strafbar ist. Es geht dann um die Frage: War der Widerwille "erkennbar"? Und das führt mitunter in die Feinheiten der zwischenmenschlichen Kommunikation.

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Dutzende "Tinder-Fälle" landen inzwischen jedes Jahr bei dem Anwalt, erzählt er. So wie der Fall von einem Mann und einer Frau, die über Sex chatteten, sich dann in einer Bar trafen, sich irgendwann küssten, und als die Frau kurz auf die Toilette verschwand, schrieb sie ihm eine Nachricht aufs Handy: "Du bist so smooth. Hmmm.. I wanna touch your dick so much." Ein paar Tage später hat sie ihn angezeigt, weil er im Bett dann doch zu weit gegangen sei. Früher, vor "Nein heißt nein", seien die Mandanten eher aus der Unterschicht gekommen, erzählt der Anwalt. Kaputte Biografien. Heute habe sich das geändert. "Jetzt ist es wirklich ein Bevölkerungsschnitt."

Wenn zwei sich nicht kennen, können sie sich durchaus mal missverstehen - so sieht das der Anwalt. "Bestraft werden kann nur, wer wirklich wusste, dass er zu weit geht." Das sei auch nach der neuen Rechtslage so. Und das finde er auch richtig so. Bei der Staatsanwaltschaft ist er bekannt dafür, seine Mandanten zum Schreiben zu animieren. So schreibt ein junger Mann an die Staatsanwaltschaft, wie die Nacht abgelaufen sei. Und: Er sei selbst schockiert über die Beschuldigung seiner Tinder-Bekanntschaft, sie habe es nur über sich ergehen lassen. "Sie war genauso aktiv beim Sex wie ich und hat zu keinem Zeitpunkt gezeigt, dass sie irgendetwas nicht will."

Kurzer Anruf bei Christina Clemm. Ist Ursus Koerner von Gustorf jetzt der Beelzebub? Nein, nein, sagt sie. Fachlich sei der Anwaltskollege gut, "nie unter der Gürtellinie, nie auf eine unangenehme Art". So sachlich könne man gerne diskutieren über mutmaßliche Sexualdelikte. Auch über die Feinheiten, die Grenzbereiche.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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