Kolumne: Vor Gericht:Adresse unbekannt

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Weil sie häufig keinen Wohnort nennen können, befürchtet die Justiz eher, dass Obdachlose abtauchen könnten (Symbolbild). (Foto: Johannes Simon/Johannes Simon)

Obdachlose landen eher in U-Haft als Steuerbetrüger, auch wenn ihre Delikte meist nicht sehr schwerwiegend sind. Das hat einen banalen Grund.

Von Ronen Steinke

Die zwei pfirsichfarbenen Flacons des Parfums "La Vie est Belle" von Lancôme kosten zusammen etwa 235 Euro. Gestohlen wurden sie aus dem Drogeriemarkt Müller. Der Dieb ist ertappt worden, er wurde von der herbeigerufenen Polizei direkt festgenommen und eine Nacht in eine Zelle gesperrt. Und nun, am folgenden Morgen, erfährt er: So schnell kommt er dort auch nicht mehr raus.

Es ist ein Freitagmorgen, Landeskriminalamt Berlin, ein Gebäude an einer vierspurigen Straße. Im ersten Stock ein Korridor mit Polizeizellen: hellgelb gestrichene Wände, mintgrün gestrichene Türen. Der Dieb, ein 19-jähriger Jugendlicher aus Vietnam, hat hier die Nacht verbracht, seine Frisur sieht trotzdem gepflegt aus, er trägt einen modischen Undercut. Beamte bringen ihn die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, in den Vernehmungsraum 205.

Der Haftrichter wartet schon, an einem Tisch hinter aufgereihten Gesetzbüchern. Der Jurist soll entscheiden, ob der 19-Jährige wieder freigelassen wird oder noch bleiben muss. Es geht jetzt nicht um die Frage von Schuld oder Unschuld. Dafür ist es noch zu früh. "Wo leben Sie?", will der Jurist wissen. Er lebe auf S-Bahnhöfen, sagt der 19-Jährige, der laut der Akte, die vor dem Richter liegt, von Crystal Meth abhängig ist. - "Wo?" - "Auf verschiedenen S-Bahnhöfen."

Dem Richter scheint die Antwort nicht zu gefallen. Er mustert den 19-Jährigen. Obdachlos zu sein ist zwar keine Straftat. Aber es ist ein Problem für die Justiz. Wie soll sie da sicherstellen, dass der 19-Jährige erreichbar ist? Dass er, wenn er jetzt freigelassen wird, nicht einfach untertaucht im Gewimmel der Großstadt? Wie soll man überhaupt Gerichtspost schicken?

"Kein Heim?", hakt der Richter nach. - "Nein." - "Keine Notunterkunft?" - "Nein", antwortet der 19-Jährige. - "Ich erlasse jetzt Haftbefehl gegen Sie", sagt der Richter. Der 19-Jährige wird in Untersuchungshaft gebracht, für zunächst unbestimmte Zeit. Nicht, weil der Diebstahl von zwei Flacons "La Vie est Belle" so schwer wiegen würde, natürlich nicht; sondern "weil wir das mal grundsätzlich klären müssen mit den wechselnden S-Bahnhöfen", wie der Richter sagt.

Darum geht es bei der U-Haft: zu verhindern, dass jemand abtaucht. Ein Delikt, für das es praktisch nie U-Haft gibt in Deutschland, ist: Steuerhinterziehung. Das liegt nicht etwa daran, dass dieses Delikt weniger schlimm wäre, sondern daran, dass die Täter in der Regel sozial gut integriert sind. Das ist für die Justiz beruhigend. So jemand türmt nicht einfach von heute auf morgen. Der hat etwas zu verlieren.

Bei Obdachlosen ist das oft anders. Der 19-Jährige aus Vietnam hört geduldig zu, fast apathisch. Seine Augenlider sind schwer, es war eine kurze Nacht, vielleicht sind das auch Entzugserscheinungen. Die Schnürsenkel seiner weißen Sneaker hat man ihm über Nacht weggenommen, zur Suizidprävention. Ein Beamter in Uniform führt ihn ab.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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