Zürcher Theaterspektakel:Der dressierte Mensch

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"Was habe ich gemacht?!": "Schmerz" von Ragnar Kjartansson mit ihm, Saga Garðarsdóttir und Kristín Anna Valtýsdóttir (Klavier). (Foto: Lilja Gunnarsdóttir/zts)

Das Zürcher Theaterspektakel findet zwingende Antworten auf die Frage, wie politisch Theater sein kann. Und muss.

Von Egbert Tholl

Man muss sich das mal ganz genau vorstellen: Es ist Sonntagnachmittag, die Sonne strahlt, der Zürichsee glitzert, die Landiwiese ist voller Menschen, die leicht bekleidet herumliegen - und vor einer sehr großen Schachtel, der Bühne Süd, stehen die Menschen an für eine Diskussionsveranstaltung über "feministischen Widerstand im öffentlichen Raum". Es werden nicht alle hineinkommen, die Veranstaltung ist überfüllt. Hat Theater wirklich ein Publikumsproblem?

Das Zürcher Theaterspektakel hat jedenfalls ganz offensichtlich keines. Zwar sagt sein künstlerischer Leiter, Matthias von Hartz, auch das Theaterspektakel würde eine Veränderung im Publikumsverhalten spüren. Früher, in seligen Präcoronazeiten, seien mit Veröffentlichung des Programms gleich einmal 10 000 Karten verkauft worden. Dieses Jahr nicht. Dafür aber stehen jeden Tag die Leute an der Abendkasse an. Gut besucht ist am Eröffnungswochenende jedenfalls jede einzelne Veranstaltung, eben auch jene, in der völlig untheatralisch nur geredet wird.

Der dekoloniale Feminismus hat noch viel Arbeit vor sich

Dies allerdings mit Verve, vor allem dank der drei Vertreterinnen des chilenischen Kollektivs Lastesis, die mit beispielhaften Aktionen den öffentlichen Raum für ihre feministischen Anliegen erobern. Zugeschaltet aus Peru wird Rita Segato, überlegen souveräne Vordenkerin des dekolonialen Feminismus. Ihr wie auch dem Trio von Lastesis geht es um viel, auch immer wieder um die Frage, wie man die Erkenntnisse aus der akademischen Welt, wie man Geschichtsbewusstsein und einen aufgeklärten Blick auf die Gesellschaft in Kunst verwandeln kann. Lastesis machen das offensiv und auf der Straße, Segato verharrt eher auf einer hochgradig analytische Position. Und sagt, neben vielen anderen klugen Sätzen: Wenn sie, die in Lateinamerika als Weiße angesehen wird, nach Europa ginge, verlöre sie ihre "Weißheit". Nur so viel zum immer noch vorhandenen rassistischen, spätkolonialen Denken.

Mit auf dem Podium sitzt auch die Schweizer Autorin Franziska Schutzbach, deren von allen Zwischentönen befreites Schwarz-Weiß-Denken dazu führt, dass man sich als männlicher Zuhörer immer schlechter und schlechter fühlt. Dann geht man hinaus, auf die Saffa-Insel im See, trifft auf Ragnar Kjartansson, der wieder und wieder ausruft: "Was habe ich gemacht?!" Das passt.

Kjartansson ist ein hochgradig eigenständiger Künstler aus Island, der sehr viel Sinn für Drama und Wiederholungen hat. Auf die kleine Insel im Zürisee hat er nun für seine Arbeit "Schmerz" ein Häuschen gestellt, in das man, da eine Wand fehlt, ungehindert hineinschaut. Darin ein extrem naturalistisches Setting, eine Bauernstube aus einem entlegenen Jahrhundert, darin ein Mann und eine Frau, er jammert, sie greint und ächzt, im Hintergrund spielt jemand unaufhörlich Klavier. Den Mann spielt Kjartansson selbst, unermüdlich ruft, singt, tönt er den einen Satz, die Miniszene wird mit leichten Variationen drei Stunden lang wiederholt, dazu machen Mann und Frau ein bisschen Alltag, fegen die Stube und schälen Kartoffeln. Die Erschütterung über eine Tat, von der man nichts erfährt, sickert über die Dauer ins eigene Gemüt, man grübelt über eigene Verfehlungen, man nimmt das Pathos immer selbstverständlicher hin, es ist großartig.

Meg Stuarts "Waterworks": Intervention im öffentlichen Raum. (Foto: Christian Altorfer/zts)

Das Zürcher Theaterspektakel gibt es seit 1980, es gehört zur obersten Liga der Festivals in Europa, im vergangenen Jahr beglückte es als erstes dieser Festivals mit der Rückkehr der internationalen Theater-, Tanz - und Performanceszene nach deren coronabedingter Absenz. In diesem Jahr fühlt es sich überbordend an, mit seiner treffsicheren Mischung aus Schauwert und Diskurs. Und: Fast alles, was man am Eröffnungswochenende sehen kann, hat einen dezidiert politischen Kern, nicht nur der Auftritt von Pussy Riot, die auch nach unzähligen Konzerten ihrer derzeitigen Europatour nichts von ihrer Energie verloren haben. Auch wenn dieser Auftritt in der Werft, einem permanent existierenden Spielort stattfindet, so ist doch ein Wesensmerkmal des Festivals die Intervention im öffentlichen Raum. Dafür entstehen auf der Landiwiese ebenso schöne wie flüchtige Bauten, dafür wird auch oft einfach draußen gespielt. Wie in Meg Stuarts Zürich-Brüsseler Koproduktion "Waterworks". Das Publikum sitzt auf schwimmenden Pontons im See, Mitglieder der Tanztruppe "The Field" sowie ein paar Lieblingsakteure Stuarts wie etwa Kristof Van Boven spielen, tanzen, performen Szenen von einem verlorenen Inselglück, von der Erinnerung an einen schönen Tag am Strand, aber auch von Flüchtlingen, Ertrinkenden und eine Choreografie, die an eine Nummer aus einem Sea-World-Zirkus erinnert. Nur werden hier die Menschen dressiert, nicht die Orkas.

Insignien nationaler Selbstdefinition: "Please Stand" von Samara Hersch und Lara Thoms. (Foto: Christian Altorfer/zts)

2019 holte Matthias von Hartz aus Australien Samara Hersch, Lara Thoms und deren Produktion "We all know what's happening" nach Zürich, eine umwerfende Aufführung, in der Kinder von einer bizarren Kolonialgeschichte berichteten, von einer Insel, die voll von Phosphat ist, weil sehr viele Vögel sehr lange dort hinschissen. Phosphat ist wertvoll, sein Abbau weckte die seltsamsten Begehrlichkeiten. Nun sind Hersch und Thoms zurück, diesmal mit drei Jugendlichen aus Malta, Iran und Indien, zugeschaltet via Video die Poetin Negar Rezvani, die nicht einreisen konnte. "Please Stand" ist ebenso hinterlistig wie damals die Phosphatinselgeschichte, ist ungeheuer klug und auf unscheinbare Art fantastisch gebaut. Es geht im Kern um eine simple Frage: Können Nationalhymnen für eine junge Generation stehen? Können die Melodien, die Worte, die heraufbeschworenen Insignien nationaler Selbstdefinition auch nur ansatzweise irgendetwas von dem transportieren, was junge Menschen umtreibt? Die Antwort: Nein.

Die meisten Hymnen sind patriarchal, scheren sich wenig um die Natur (Ausnahme: die Schweizer Hymne, bekannt als "biblische Wettervorhersage") und handeln oft von Kriegen und Schlachten. Das erzählen die Jugendlichen, durchaus amüsiert, sie berichten von sehr seltsamen Entstehungsgeschichten der Lieder. Das dauert, weil viele der Hymnen alt sind. Die Revolte dagegen ist jung. Die kann schon darin bestehen, dass man in einem Kino in Indien nicht aufsteht, wenn in einem Bollywood-Film die indische Hymne vorkommt. Steht man nicht auf, wird man verhaftet. Da denken sich die jungen Leute, das ist alles Quatsch, was hat das mit mir zu tun? Und suchen nach Liedern, mit denen sie sich identifizieren könnten. Etwa den "Earth Song" von Michael Jackson.

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